Karfreitag
Text: Mt 27,33–54
Thema: Selig sind die Leid tragen
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Das Kreuz steht uns vor Augen. – Hinweis auf die Lesung Joh 19 … Zwar haben wir uns daran gewöhnt, nehmen es als festen Bestandteil unserer Zeichenwelt, aber die Geschichte zum Kreuz, der wir uns heute zu stellen haben, kann uns erschüttern. Das Kreuz, erst recht das Kreuz Christi, stellt uns Leiden und Tod vor Augen.

Nun müssen wir über den Tod reden. Er gehört zu unserem Leben. Nicht erst, wenn er da ist. In Reichweite ist er immer. Manche wissen das. Sie haben Erfahrungen gemacht, sie haben ihn gesehen und seinen Hauch gespürt. Manche kennen ihn brutal und blutig. Jähes Entsetzen begleitet ihn, erst langsam können Tränen sich lösen. Manche haben ihn schleichend und zielstrebig gesehen. Sie hatten Gelegenheit, ihn kennenzulernen wie einen Nachbarn. Andere sind seiner Tücke zum Opfer gefallen: von jetzt auf gleich. Ein „schöner Tod“ sei das, sagen die andern, so kurz und schmerzlos. Und dabei wäre noch so viel zu sagen und auszudrücken gewesen. Die Zeit, schwere Zeit voller Schmerzen, bleibt denen, die in langem Leiden auf den Tod zugehen.

Der Tod hat viele Gesichter und „für alle hat der Tod einen Blick“ [Cesare Pavese: Der Tod wird kommen, 1951]. Wir müssen über den Tod reden, um unseres Lebens willen. Und dabei müssen wir auch das Sterben in den Blick nehmen, so schwer uns das fallen mag.

Die Texte dieses Tages helfen uns dabei. Sie geben uns Anstöße und Anhaltspunkte für unser Nachdenken und Empfinden. Das fängt schon damit an, dass uns das Sterben eines einzigen so eindringlich vorgestellt wird. Wir sind die Serie gewöhnt, die Masse, in der der einzelne das Gesicht verliert, und wir die Chance, uns in ihm zu sehen. Sterben, das ist was für die andern – die Bösen, ich bin gut; die Alten, ich bin jung; die Dummen, ich bin schlau.

Nun berichtet uns Matthäus vom Todesweg des Einen. Und wir hören es und nehmen es auf. Wir setzen uns der Tatsache aus – ohne schnelle Vertröstung, ohne hastiges Retuschieren, ohne den eiligen Versuch zu entkommen. Nein, wir sind hier, weil wir hören und verstehen wollen. So suchen wir Trost, indem wir die Augen aufmachen und das Elend sehen und aussprechen. Matthäus berichtet.

Mt 27,33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38 Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. 51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52 und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Matthäus berichtet. Sein Bericht klingt fast nüchtern. „Ein Sterbeprotokoll: Fast scheint es deshalb so geschrieben, damit man nichts dazutun kann und genötigt wird, diesen Bericht so zu lassen, wie er ist. …

Alles wird protokolliert: Auch wie Simon von Kyrene von den Soldaten gezwungen wird, Jesu Kreuz zu tragen. Die Passion Jesu ist nicht nur mit Dienst verbunden, sondern auch mit Zwang und Spott. Das Volk lästert, seine Anführer lästern. Und in diesem Spott kommt gegen den Willen der Spottenden – so berichtet es Matthäus – die Wahrheit an den Tag: „Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun!“ [Mt 27,43] Der Höhepunkt ist erreicht in den Schmähungen der Räuber. Hier stirbt einer ohnmächtig und von den Menschen unverstanden. – Ist das womöglich Kennzeichen des Todes, und zuvor des Sterbens: Ohnmacht und zuletzt Einsamkeit. Die Aufgabe, diesen Weg allein gehen zu müssen. Was verstehen, was können verstehen, die drumherum stehen? Aber: Er hat Gott vertraut! Das bezeugen sogar die Spötter – und stellen ihm damit ein Zeugnis aus – gegen ihren Willen. Und wir vertrauen – dieses im Sinn – darauf, dass „Gott gerade hier, wo sie ihn für abwesend halten, so gegenwärtig ist, wie nie und nirgends sonst auf Erden“ [E. Schweizer, NTD 2, Das Evangelium nach Matthäus, 1979, S. 336]

„Er hat Gott vertraut.“ [Mt 27,43] Genau das hat er mit seinem ganzen Leben getan, was ihm hier spottend nachgerufen wird. Er hat „Gott vertraut“ und so das erste Gebot gehalten. Dass er es nun mit seinem Sterben erst recht tut, begreifen die Spötter nicht. Sie wollen Gott nicht trauen, darum fordern sie den Nachweis Gottes, und zwar „jetzt“, das heißt in dem Moment, in dem sie es für nötig befinden [E. Schweizer, a.a.O. S.336] – das Sterben als Experiment. Verstünden sie nur ein wenig von dem, was sich vor ihren Augen ereignet, sie würden staunen, wie das den Sterbenden zu tragen vermag, was schon sein Leben trug. Bewährtes Vertrauen. Nichts von der Schwere des Sterbens wird darum leichter. Die Not bleibt mächtig, ja sie nimmt noch zu, so sehr, dass sie kaum mehr auszuhalten ist. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ [Mt 27,46] Selbst jetzt rechnet er noch mit Gott. Der Psalm 22, dessen Worte Jesus hier spricht, wirft einen selbstkritischen Blick auf den bedrängten Menschen, mündet aber in ein tiefes Vertrauen zu dem Gott, der rettet. Und Jesus folgt dem. Selbst jetzt – gerade jetzt im Elend – ist Gott sein Gegenüber. Wer sonst? Er lässt ihn nicht los und zeigt damit, „dass Gott allem Anschein zuwider doch da ist“ [E. Schweizer a.a.O., S. 337].

Das ist Matthäus wichtig. Darin zeigt sich für ihn, wer Jesus selbst ist: Der Gott vertraut hat, erlebt eine Situation der Verlassenheit. Aber er gibt ihn, selbst preisgegeben, nicht preis, sondern hält an ihm fest. „Er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.“ [Mt 27,43] Seine Zugehörigkeit gibt er nicht auf, kann er nicht aufgeben – darin zeigt sich: Er ist Gottes Sohn. Für Matthäus ist das deutlich. Die apokalyptischen Begleiterscheinungen, von denen im Weiteren die Rede ist, unterstreichen das nur noch: Steine wanken, Felsen zersplittern, geöffnete Gräber, Auferweckung Entschlafener und der Vorhang im Tempel zerreißt. Das alles sagt nur eines: Jesus „eröffnet den Zugang zu Gott, und er überwindet den Tod und schenkt die Freiheit des Lebens.“ [W. Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, 1968, S. 562]

So erhellt dieser dunkelste Moment den tiefsten Sinn des Lebens. Er lässt uns einsehen in das, was zwischen Vater und Sohn ist, was Gott in seinem Innersten bewegt. Da ist der Schmerz um den sterbenden Sohn am Kreuz. Da ist auch jene zwar unsichtbare, aber auch unzerstörbare Verbindung im zur Hingabe bereiten Vertrauen. Und da ist schließlich „das befreiende Wort der Liebe, die neues Leben schafft“. [J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 1972, S. 203]

Matthäus zeigt, wie durch das Vertrauen des Sohnes in den Vater die Seligpreisung eingelöst wird: „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.“ [Mt 5,4] Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke, die Felsen zerbarsten, die Gräber taten sich auf. Die Trennung ist überwunden. Der Trost Gottes hat das letzte Wort und verwandelt die Welt. Das will uns Matthäus sagen. Und das haben seit Jesu Tod und Auferstehung immer wieder Menschen erfahren. Durch die Tränen hindurch, durch Schmerz und Leid hindurch führt ein Weg zum Leben – verlasst euch drauf!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.