Quasimodogeniti
Text: Joh 20,19–20(21–23)24–29
Thema: Was glauben bedeutet
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Eben noch in die Lektüre der Zeitung vertieft, hebe ich den Blick. Überall im Café sitzen sie zu zweit oder zu dritt. Einige löffeln still vor sich hin, manche führen ein angeregtes Gespräch. Und dahinten sitzt auch einer allein. Ich schaue ein zweites Mal hin, während die Frage in meinem Kopf lauter wird: „Den kennst du doch?“ Ich muss immer wieder hinsehen, derweil mein Hirn angestrengt arbeitet. Menschen können sich im Laufe der Jahre stark verändern. Ihr Äußeres, ihre Haltung, ihr Auftreten. „Den kennst du doch!“ „Wenn ich nur wüsste, woher!“ Im Hintergrund läuft die Wahrscheinlichkeitsüberprüfung. „Kann nicht sein.“ „Kann nicht sein.“ „Oder doch?“ „Doch!“ „Das ist doch…!“ Soll ich meinen Augen trauen, so kurz- und stabsichtig sie sind? Kann sein, dass mit der Zeit der Drang nach Aufklärung so manifest wird, dass ich dem nachgebe und hingehe, um die Unklarheit zu beseitigen.
Das ist eine Alltagserfahrung. Immer wieder machen wir sie. Auch neulich, als ich auf dem Weg, in der Kurve, wo man aus dem Wald kommt, rechts gleich neben der Fahrbahn ein weißes Reh stehen sehe. Meine erste Reaktion war Zweifel. Das kann doch nicht sein. Ein weißes Reh! Jetzt spinne ich wohl. Wenn mir das jemand erzählte, so nah am ersten April, ich würde meinen, der verlädt mich. Erzählen kann man viel!
Ich sehe die Stirnfalten bei Thomas, als seine Freunde, die Jünger, ihm erzählen, Jesus sei bei ihnen gewesen. Er sei offenbar nicht durch die Tür gekommen, die sei verriegelt gewesen. Und er habe zu ihnen gesprochen: „Friede sei mit euch!“ Auch Thomas kann sich vorstellen, wie sie alle mit weit aufgerissenen Augen dagestanden hatten. Und Jesus habe ihnen seine Wundmale gezeigt. Von sich aus. Nicht einer hatte danach gefragt. Wusste er um ihre Schwierigkeiten, die Realität seines Todes, er war am Kreuz gestorben und in ein Grab verbracht worden, vor dessen Zugang man einen Felsbrocken gerollt hatte, und seine leibhaftige Gegenwart jetzt zusammenzubringen? Ihr Erstaunen – ist es eine Übertreibung von einem ungläubigen Staunen zu sprechen? – ihr Erstaunen hatte sich jäh in Freude aufgelöst. Thomas kennt seine Kollegen. Es sind keine Spinner. Es sind Männer, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Man macht ihnen kein X für ein U vor. Trotzdem sehe ich ihn die Stirn runzeln und höre ich sagen: „Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben.“ [Joh 20,25]
Seit Wochen ist Catherine von der Bildfläche verschwunden. Krankheit und „Bauch-OP“ können die Fragen nur für’s Erste zum Verstummen bringen. Inzwischen schießen Fragen und Vermutungen ins Kraut. Der Palast veröffentlicht ein Foto. Sie und ihre Kinder. Sie lacht, wirkt fröhlich. Die Gutgläubigen sind’s zufrieden. Die andern bemerken, beim kleinen Prinzen Abweichungen von der menschlichen Anatomie. Das Händchen und der Arm – so passt das nicht. Detail um Detail spricht dafür, das ganze Foto ist ein Fake. Es ist ein Eigentor. Gemessen daran, was Fotobearbeitung heute vermag, geschweige denn die von der Künstlichen Intelligenz Gesteuerte, wirkt das Gute-Laune-Foto stümperhaft. Wir tun gut daran, nicht alles zu glauben, was wir zu sehen bekommen.
Thomas glaubt nicht, was ihm die anderen als Gute Nachricht offerieren. Er will es mit eigenen Augen sehen, mehr noch, er will es begreifen. So wird die Wahrheit für ihn manifest – „handgreiflich gemacht“. Jesus fordert ihn auf: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ [Joh 20,27]
Wieso kommt Jesus dem zweifelnden Thomas so weit entgegen? Ich stelle Vermutungen an. Ich vermute, Jesus weiß, dass Thomas sein Entgegenkommen braucht. Jesus ist ein kluger Seelsorger. Und ich vermute, entscheidend ist die Wendung am Schluss: „und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! […] Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ [Joh 20,27.29]
Sehen, wissen, denken, Vernunft – für viele sind das Begriffe, die dem Glauben gegenüberstehen. „Glauben ist Nicht-Wissen“, lautet eine beliebte Formel. Wer weiß, vielleicht hat der Glaube das Wissen, das dem Wissenden noch versperrt ist. Vielleicht ist der Glaube auch der blinde Fleck unseres Denkens. [vgl. Norbert Bolz: Das Wissen der Religion, München 2008, S. 21] Denken ist jedenfalls nicht das Gegenteil von glauben. Auch im Glauben denkt man. „Nicht du hast einen Glauben, sondern der Glaube hat dich. Man denkt mit dem, was man glaubt.“ [ebd.] Nicht du hast einen Glauben, sondern der Glaube hat dich. Darauf verlässt du dich. Der gibt deinem Leben den Grund und das Ziel. Daran hängst du dein Herz.
Worauf willst du dich verlassen, Thomas? Im Ernst, auf dich und dein Erkenntnisvermögen? Und wir? Wie sehen wir uns in diesem Spannungsfeld von glauben und zweifeln, beweisen und vertrauen?
Nicht wenige werden sagen: „Ich verlasse mich auf mich selbst.“ „Ich bin autonom, Herr meines Lebens.“ Drüber gibt’s nichts. So sind sie sich selbst das höchste der Gefühle, das Wichtigste. So sind sie im Leben unterwegs, und so erleben wir sie. Im Mittelpunkt dieses Universums steht das Ich. Nochmal: Man denkt mit dem, was man glaubt.
Andere verlassen sich auf Sicherheiten, die sie aus eigener Kraft erzeugen können, die sie sozusagen in der Hand haben – manifest. Das können nur materielle Werte sein. Sie sagen: „Geld regiert die Welt“ – und ich will am Kabinetttisch sitzen. Man denkt mit dem, was man glaubt…
Viele sind auf den Pfaden des Lebens als Suchende unterwegs. Die Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten wirft sie hin und her. Mal meinen sie einen Zipfel des Glaubens erhascht zu haben, dann wieder werfen bittere Zweifel sie zu Boden. Erklärungsversuche begleiten den Weg. Sie geben sich die Klinke in die Hand, denn einer nach dem anderen erweist sich als ungenügend. Thornton Wilder meint darum: „Das erschöpfendste aller unsere Abenteuer ist die Wanderung durch die langen Gänge unseres Denkens zu den weiten Hallen, wo der Glaube wohnt.“ Kommen wir dort auch an?
Vielleicht wenn wir nach all dem erschöpft und ratlos sind. Dann, so notiert Dietrich Bonhoeffer, „dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst … und ich denke, das ist Glaube … und so wird man ein Mensch, ein Christ.“ [Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 542 f]
Sich Gott ganz in die Arme werfen, das kann ich erst, wenn ich all das andere losgelassen habe. Das kann ich erst, wenn ich dazu bereit bin, mich in diese Arme fallen zu lassen. Was muss geschehen, dass diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird?
Einen Kommentar bei den Losungen des Jahres 2017 habe ich mir notiert. Darin verortet sich einer, der glaubend denkt.
„Glauben Sie, so wurde ich gefragt, an den lebendigen Gott? Ich antwortete: Ich lebe davon, dass Gott an mich glaubt. Und was halten Sie von Jesus Christus? Und ich antwortete: Ich baue darauf, dass er mich hält. Und was denken Sie vom Heiligen Geist? Und ich antwortete: Dass er uns beide tief verbindet, mehr als wir denken können.“ [Andreas Knapp, Losungen 2017]
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.