Pfingstsonntag
Text: Joh 14,15–19.23b–27
Thema: Wie Gott uns berührt
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

„Dann ist es ganz leer in mir“, sagt sie, „und ich kann und will nichts mehr – gar nicht mehr, verstehen Sie? Dann spüre ich mich selbst nicht mehr.“ Während sie das sagt, kullert eine Träne über ihre Wange. Ihre Not ist groß und kaum zu sagen, das ist zu spüren. Wo ist der Ausweg? Wer kann helfen?

„In der Familie haben wir immer zusammengehalten“, erzählt die alte Dame, „wir waren füreinander da.“ „Ich habe gelernt, immer auch an die anderen zu denken.“ Und jetzt ist sie alt. Die Hoffnung, dass die Familie, die so weit auseinander lebt, nun genauso für sie einstehen wird, ist weitgehend gewichen. Allein geht’s nicht mehr zuhause. Nachts rütteln die Gedanken an ihr, wie der Sturm an den Fensterläden. Was soll es jetzt geben? Wo soll sie hin?

Meist ist sie in sich gekehrt. Innen, da ist die Heimat, da ist der Großteil ihrer Familie und vor allem ihr Mann. Nur innen kann sie ihm begegnen, denn kämpft irgendwo zuhause, wo kaum noch ein Stein auf dem anderen steht, gegen den Feind. Aber innen wohnt auch die Angst um ihn und all die anderen, die geblieben sind. Und die Sorge will nicht verstummen: Werden wir eine Zukunft haben? Werden unsere Kinder einst wieder ein Zuhause haben?

Immer wieder fällt er auf. Keinen Moment kann er ruhig sitzen, an keine Weisung kann er sich halten. Immer muss er anders, muss aufbegehren und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als ob er eine tiefe Sehnsucht in sich trüge, endlich gesehen zu werden und endlich am Gegenüber zu erfahren, wo oben und unten, rechts und links, gut und böse sind.

Seelen-Unwetter. Beim einen brauen sie sich zusammen, der andere droht in ihnen unterzugehen. Als die Jünger von Jesus erfahren, dass er nicht mehr lange bei ihnen sein wird, schlagen die Wogen in ihnen hoch. Es macht ihnen Angst, was er sagt, und es erschrickt ihr Herz. Wie wird es erst sein, wenn wahr geworden ist, was er ankündigt? Wenn er nicht mehr da ist und sie allein auf sich gestellt, in der Welt sein werden?

Jesus spürt ihre Sorge, ja, ihre Ängste. Beim Evangelisten Johannes lesen wir Reden, die er an seine Jünger gerichtet hat. Als „Abschiedsreden“ werden sie bezeichnet. In einer, wir haben sie im Evangelium gehört, kündigt er die Hilfe an, die sie erfahren werden, die sie eng mit ihm verbunden sind. „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ [Joh 14,23].

Wie stellen wir uns das vor? Wird es an der Haustür klingeln? Wohl kaum. Jesus spricht vom Tröster, der kommen wird, vom Heiligen Geist. In ihm werden Vater und Sohn gegenwärtig sein. Wo er ist, werden auch sie sein.

Aber es wäre doch schön, wenn es ein Zeichen gäbe, das mich spüren ließe, was Jesus angekündigt hat. Selbstverständlich würde das Zeichen nicht die Sache selbst sein. Das Wasser der Taufe ist nicht der Geist des Herrn, die aufgelegte Hand nicht die Gegenwart des Geistes. Aber ein Zeichen dafür, das mich spüren lässt und mich in die Beziehung zu Gott ruft.

Aus dem Gottesdienst kennen wir das. Es hat etwas im wahrsten Sinne des Wortes „Berührendes“, wenn einem bei der Konfirmation – oder auch, seltenerer Fall, bei der Ordination – die Hand zur Einsegnung auf den Kopf gelegt wird. Nachher werden wir in der Abendmahlsliturgie einander die Hand zum Friedensgruß reichen und am Ende die Gemeinschaft spüren, wenn wir uns zum Sendungswort alle miteinander verbinden. Und sind nicht auch die zum Segen erhobenen Hände am Ende so etwas wie eine angedeutete Berührung. Und jene, die die Handauflegung praktizieren, wissen um deren Wirkmacht bei denen, die sich darauf einlassen.

Aber solche Berührung ist nicht dem offensichtlich Religiösen vorbehalten. Von dort, vom Heiligen schlägt Jesus immer wieder die Brücke zum Nächsten. Das kann der Aussätzige sein, dann berührt er den Unberührbaren [Mt 8]. Das kann der gesellschaftliche Paria sein. Dann kehrt er im Haus des verachteten Zöllners ein [Lk 19]. Das kann der verurteilte Verbrecher sein, der seine Nähe sucht. Dann verspricht er dem Übeltäter, der neben ihm am Kreuz hängt, „heute wirst du mit mir im Paradies sein“ [Lk 23,43].

Oft berührt er sein Gegenüber. Das bewirkt mitunter mehr als alle Worte. Wenn ich als Kind gerannt bin und irgendwann hinfiel und heulte, dann suchte ich nicht den, der mir dazu eine tröstende Rede gehalten hätte, sondern eine vertraute Hand.

Was ihn dabei treibt, das ist das, was er seinen Jüngern lässt. Es ist das, was nicht stirbt, sondern bleibt und immer wieder neu wird. Es ist die Liebe.

An kaum einem anderen Ort wird das so deutlich, wie dort, wo wir Abschied voneinander nehmen. Ich denke nicht nur an den Reiseabschied, ich denke ans Kranken-, ja, Sterbebett. Dort geht es um das, was bleibt, was zählt, und was es um das Leben ist. Alles in allem – es ist die Liebe. Die aber ist nicht zu verwechseln mit dem romantischen Gefühl.

Dreimal erklärt Jesus seinen Jüngern, wie sie ihn lieben sollen. Nämlich indem sie seine Gebote bzw. sein Wort halten [Joh 14,15.21.23]. So bleiben sie mit ihm verbunden und in Gemeinschaft.

Was die Liebe vermag, das haben die, die mit Jesus verbunden waren, in seiner ganzen Größe und Vollkommenheit erlebt. Niemanden gibt er verloren. Jeden lässt er spüren, im Grunde seines Daseins von Gott geliebt zu sein. Ein Späterer wird zusammenfassend sagen: „Gott ist die Liebe“ [1. Joh 4,16b]. Darum ist Gott auch der tiefste Grund dafür, dass Menschen zu sich stehen und füreinander da sein können und sie das Gefühl haben, in die Welt zu passen. Sein Heiliger Geist verbindet uns mit IHM und untereinander zu einer Gemeinschaft, die keine Grenzen kennt. Auch nicht die des Todes.

„Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen“, so kündigt Jesus seinen Tod an. „Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Ostern, die Auferstehung, das soll unsere Zukunft sein. „An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch“ [Joh 14,19f.].

Welch eine Verbindung! ER im Vater, wir in IHM und ER in uns. Und wie soll das zugehen? Wie soll das immer wieder neu werden, wenn wir selbst herausgefallen sind, überfordert, verängstigt, allein gelassen, niedergedrückt? Wie um alles in der Welt sollen wir bestehen? Jesus sagt: „Der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ [Joh 14,26].

Der Tröster, der Heilige Geist, wird die Hand lenken, sie sich segnend auf unser Haupt legt. Er wird Herz und Hand bewegen, die dem anderen den Friedensgruß entbietet. Er wird die Liebe spürbar werden lassen, die die Geste des Tröstenden erfüllt. Ohne jedes Wort wird sie das Wesentliche sagen: Gott ist mir dir! Er steht an deiner Seite!

Der Tröster, der Heilige Geist, wird uns, wenn wir in Angst und Not sind, daran erinnern, dass wir nicht in der Welt und dem, was uns Angst macht, aufgehen. Er wird uns einen bunten Regenbogen an den schwarzen Himmel malen. Er wird uns eine Hand spüren lassen, die nichts von uns fordert, die nur da ist, damit wir spüren, wie ER da ist. Er wird uns, auch wenn wir bange sind und zittern, schier überwältigt von dem, was uns auferlegt ist, er wird uns daran erinnern, dass wir gegründet sind in Gottes Liebe. Und er wird uns den Weg weisen, in dieser Liebe zu bleiben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.