Judika
Text: 1. Mose 22,1–14(15–19)
Thema: Was bist du bereit zu geben?
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

1. Mose 22,1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihn der Engel des Herrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt. 14 Und Abraham nannte die Stätte »Der Herr sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der Herr sich sehen lässt.

„Abraham!“ ruft der Herr. Und wo Adam schwieg und sich verbarg, als er gerufen wurde, da antwortet Abraham im Reinen mit Gott voller Vertrauen und ohne Arg: „Hier bin ich!“ [1. Mos 22,1] Hätte er doch geschwiegen! Denn es folgt eine Erzählung, die einen, der ihr mit unverstelltem Blick folgt, erschüttern muss. Ungeheuerlich ist die Aufforderung, die Abraham nun hört: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“ [1. Mos 22,2] Weiß Gott nicht, wie sehr Abraham und Sara sich diesen Sohn gewünscht hatten und wieviel für sie von diesem Sohn abhängt? Der Sinn ihres Lebens, die Rechtfertigung ihres Entschlusses, aus der alten Heimat aufzubrechen und einen Weg zu nehmen, den Gott ihnen zeigen würde, all das soll nun hinfällig sein. Welche Zumutung, welche Überforderung – sehenden Auges und mehr noch mit eigener Hand das geliebte Kind opfern! Elie Wiesel, dem in seiner Lebensgeschichte ähnliches Leid in den Konzentrationslagern vielfach begegnet ist, schreibt dazu: „Dies ist eine bestürzende Geschichte, in der die Furcht herrscht. Die Furcht und der Glaube. Die Furcht und die Herausforderung. Die Furcht und das Lachen. Eine Schrecken erregende Geschichte, die zu einer Quelle des Trostes geworden ist für alle, die sie auf sich nehmen und sie in einem übertragenen Sinne in ihre eigene Erfahrung einfügen.“ [Elie Wiesel: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. 1994]

Dass unser Leben, so wie das für Abraham gilt, ein angefochtenes Leben ist, dass es in einer variantenreichen Spannung steht zwischen dem, was uns trägt, und dem, was uns straucheln lässt: Furcht und Glaube. Furcht und Herausforderung. Furcht und Lachen. Wir haben keine Wahl, sagt uns der furchterfahrene Wiesel. Wir müssen diese Geschichte auf uns nehmen.

In Abraham, der sein Kind hergeben soll, sehe ich die Eltern, die im Zweiten Weltkrieg ihr Kind zum letzten Aufgebot, oft genug in den Tod schicken mussten. Ich sehe die Eltern, die in der ganzen Verwandtschaft Geld für die Schleußer gesammelt haben, damit wenigstens einer der Aussichtslosigkeit ihres Daseins entkommen kann, wenn er, ja wenn er unterwegs nicht den Tod findet. Ich sehe die Eltern, die mitansehen müssen, wie ihr Kind auf den Tod krank darniederliegt. Kann ich einen Gott denken, der mich in eine solche Situation bringt?

In der Erzählung zeigt sich Abraham folgsam. Allerdings wirkt sein Verhalten wie das eines traumatisierten Menschen. Fast mechanisch, unter Ausschaltung aller Gefühle, als sei er blind für das Elend vor seinen Augen, macht er sich mit seinem geliebten Sohn auf den Weg. Nach drei Tagen liegt der Berg, auf dem er seinen Sohn opfern soll, vor ihm. Allein gehen die beiden weiter, um, wie Abraham sagt, „anzubeten“. Auch das noch! Kann ich einen Gott denken und mich zu ihm bekennen, der mich versucht?

Ich kenne Menschen, die ihr Kind verloren haben, für die Gott gestorben ist. Und auch uns fällt es schwer, Gott zu denken als einen, der uns versucht. Wir ringen um verständliche Erklärungen, um den „lieben Gott“ nicht zu verlieren. Es fällt schwer zu akzeptieren, dass Gott auch Seiten hat, die für uns im Dunkeln liegen. Wir wollen ihn gern begreifen als Gott der Liebe, und sehen zugleich davon ab, wie schmerzhaft Liebe sein kann. Aber wenn man konsequent nichts und niemand anderem ein Recht auf unser Leben zubilligen will als ihm, dann kann man durchaus zu dem Schluss kommen: Gott steht auch hinter der Versuchung. Schwer zu fassen. Aber wir bitten ja nicht umsonst in jedem Vaterunser: „Und führe uns nicht in Versuchung.“

„Versuchung“ verstehe ich als „Erproben“ oder „Auf die Probe stellen“, nicht aber so, dass Gott einen absichtsvoll ins Verderben lockt.

Die Härte der Geschichte von Abraham, der sich anschickt, seinen Sohn dem Willen Gottes zu opfern, bleibt. In ihr klingt eine andere, unbestreitbare, aber gerne bestrittene Härte an: Nie gehört uns unser Leben! Es ist uns als Geschenk und Aufgabe anvertraut. Aber es gehört uns nicht. Eine bittere Wahrheit für alle, auch für die, die nicht an Gott glauben. Umgekehrt bewahrt uns auch der Glaube nicht davor, in Abgründe sehen zu müssen. Ja, unser Blick zum Kreuz, hat er über die Jahre nichts Gewohnheitsmäßiges angenommen, lässt uns gerade dort in den Abgrund sehen – bis zur Unerträglichkeit. Da muss unser Glaube, da müssen wir selbst durch. Ja, wer Gott in seiner Größe und Gänze sieht, muss sterben. Kein Mensch kann das aushalten. Wir erinnern uns an Moses Versuch, Gott zu schauen [2. Mos 33], bei dem er spürt, dass das über seine Möglichkeiten geht. Aber wer sich auf diesen Gott einlässt, wer ihm vertraut, muss deshalb damit rechnen, auch in extreme Situationen zu kommen, die man nicht überschauen kann. Das ist ganz anders als die vielen Heilsversprechen mit ihren einfachen und sanften Antworten. Von wegen „nichts ist (uns) unmöglich“! Nein, wir können aus den Steinen der Wüste, aus den Steinen in unserem Leben, kein Brot machen [vgl. Mt 4,3-4].

Da gibt es nichts mehr zu sagen. Stumm gehen Abraham und Isaak nebeneinanderher, und Isaak trägt „das Holz zum Brandopfer“ [1. Mos 22,6]. Dann spricht der Sohn den Vater an: „Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn.“ [1. Mos 22,7] Der ahnt, dass hier etwas nicht stimmt: „Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?“ [1. Mos 22,7] Und Abraham antwortet ihm, wie er Gott geantwortet hatte: „Hier bin ich“. Auch jetzt duckt er sich nicht weg. „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer“ [1. Mos 22,8]. Dann, einige Zeit später, sehen wir alles vorbereitet für das grausame Opfer. Isaak, dessen Name Gott und das Lächeln in einen Zusammenhang bringt, liegt gebunden auf dem Altar, den Abraham errichtet hat. Er ist bereit, den Sohn zu opfern.

Die gedankliche Verbindung mit Jesus, dem Sohn Gottes, von dem Paulus an die Philipper schreibt: „Er erniedrigte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ [Phil 2,8], ist offenkundig.

Die Geschichte, so fern sie meiner Lebensrealität sein mag, so sehr sie zuspitzt und damit irritiert, stellt mir eine Frage, die ich nicht abweisen kann: „Was bist du bereit zu geben?“

Ist es die Kirchensteuer oder der Zehnte, also ein Vielfaches derselben? Oder ist es mein persönlicher Einsatz für diesen Herrn, für das Wohl seiner Gemeinde? Dass ich in den Aufgaben, die ihr gestellt sind, meine erkenne und annehme? Dass ich mich einsetze für sie und ihr Wohl? Dass ich zu ihr halte, nicht zuletzt, wenn sie in Bedrängnis kommt? Dass ich mich vom Fordern auf’s Geben verlege?

„Was bist du bereit zu geben?“ Die Frage stellt sich immer wieder im kleinen oder im großen Format. Sie stellt sich mir, sie stellt sich uns: Und ja, sie stellt uns, wenn auch mit großem Abstand, in eine Reihe mit Abraham und mit Jesus. „Was bist du bereit zu geben?“

Nicht weit von hier erinnert ein Straßenname an einen, der gegeben hat, was er hatte – sogar sein Leben. Ein Mensch des 20. Jahrhunderts. Ein Christ. Einer, der sich zu seinem Herrn bekannt hat. Dietrich Bonhoeffer.

Ein drittes Mal hört Abraham hin, als er angesprochen wird. Auch jetzt ist er noch ansprechbar für Gott. Und wieder antwortet er: „Hier bin ich!“ Endlich findet diese Geschichte eine Lösung. Es ist eine Erlösung. Denn nun steht da ein Widder, der geopfert werden soll. Wir wissen, dass wir damit eine Begründung für die Überlieferung dieser Geschichte bekommen: Sie kennzeichnet den religionsgeschichtlichen Moment, in dem das einst (auch) in Kanaan übliche Menschenopfer abgelöst wird durch das Tieropfer. Gott will keine Menschenopfer.

So wird aus dieser grausamen Geschichte, die uns bis zum heutigen Tag zu erschüttern vermag, eine Trostgeschichte für das Volk Israel. Sie steht dafür, dass selbst die Abgründe der Geschichte, es ist kaum zu glauben, keine Verneinung des Lebens, der Geschöpfe und der Schöpfung durch Gott bedeuten, sondern dass Gott selbst durch sie hindurch, das Heil für diese Welt und seine Geschöpfe und für jeden einzelnen will. Sie erzählt von der Hoffnung wider den Augenschein.

Und es ist eine Geschichte vom Glauben. Der bleibt nicht stehen. Der scheut nicht, wie ein erschrockenes Pferd, der nimmt auf sich, was ihm aufgegeben ist. Der bleibt an-sprechbar für Gott. Der geht hindurch – durchaus nicht un-beeindruckt, durchaus nicht unirritiert – aber geht. Letztlich weist der Weg von Abraham und Isaak zum Opfer im Land Morija auf Jesus hin und den Vater, der ihn diesen, seinen Weg gehen lässt nach Golgatha und – kaum zu glauben – dann weiter durch den Tod hindurch nach Emmaus.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.