Estomihi
Text: Amos 5,21–24
Thema: Gerecht werden
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Amos hat eine Botschaft. Sie ist ihm nicht einfach eingefallen, als er seine Schafe hütete und seine Feigenbäume pflegte, sondern sie wurde ihm von Gott aufgetragen. Amos ist ein Prophet der Hebräischen Bibel. In Tekoa war das, einem Örtchen ca. 20 km südlich von Jerusalem. Es gehörte im 8. Jahrhundert vor Christus zum sogenannten Südreich „Juda“, später Judäa. Das Gebiet der zwölf Stämme war in dieser Zeit geteilt. Der Norden, das war Israel (Samarien). Amos war im Umfeld von Jerusalem aufgewachsen. Dort war die Tradition um David und den Zion lebendig, deren zentrales Anliegen die Treue zum Bund mit Gott war und daraus folgend eine Beachtung der Weisung Jahwes. Im Norden dagegen lebte zu dieser Zeit eine wirtschaftlich unabhängige Oberschicht auf Kosten der „kleinen Leute“. Was Jahwes Recht verlangt, das spielte dabei im Alltag keine Rolle. Die Wohlfahrt insbesondere der Benachteiligten blieb auf der Strecke. Amos schimpft: „Höret dies Wort, ihr fetten Kühe, die ihr auf dem Berge Samarias seid und den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht zu euren Herren: Bringt her, lasst uns saufen!“ [Am 4,1] Daneben verstand man sich auf prächtige Wallfahrten und üppige Liturgien. Auf diesem religiösen Kissen konnte das Gewissen fein ruhen – bis dieser Amos kam und sprach: „die ihr schlaft auf elfenbeingeschmückten Lagern und euch streckt auf euren Ruhebetten … Ihr esst die Lämmer aus der Herde und die gemästeten Kälber und spielt auf der Harfe und erdichtet euch Lieder wie David und trinkt Wein aus Schalen und salbt euch mit dem besten Öl, aber bekümmert euch nicht um den Schaden Josefs.“ [Am 6,4ff.] Na schön, mag man denken, die leben halt gut. Was ist schon dabei? Wer hat, der hat. Was Amos, das Bäuerchen aus dem Süden, das zum Propheten wurde, an denen aus dem Norden kritisiert – in Gottes Namen kritisiert – das wird deutlich an seiner Redeweise. Überall verwendet er die Worte des Kultes, die Worte, die die Hörer aus dem Gottesdienst kennen, die die prächtig geschmückten Priester sonst sagen. Wenn seine Zuhörer diese Worte sonst zu hören bekommen, dann können sie sich sicher sein, auf der richtigen Seite zu leben: Eins mit dem Kult, einig mit den Priestern, die ihn und in ihm Gott repräsentieren.

Damit ist’s jetzt vorbei. Wohl hören sie vertraute Worte, aber ihre Sicherheit bricht an den messerscharfen Urteilen und Anweisungen Gottes selbst, der nun durch den Propheten selbst zu Wort kommt:

(21) Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und (a) mag eure Versammlungen nicht riechen. (22) Und wenn ihr mir auch (a) Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. (23) Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! [Am 5,21-23]

Das ist keine Laune, die hier zum Ausdruck kommt. Es ist eine Verstimmung. Es stimmt nämlich etwas nicht im Lande. Im nächsten Satz wird das durch ein mit wenigen Strichen gezeichnetes Gegenbild klar: „(24) Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ [Am 5,24]

Die geistliche Dürre soll ein Ende haben. Gottes Weisung soll sich ausbreiten wie das segensreiche Wasser eines Stromes oder eines Baches. Das Land soll dadurch erblühen und Früchte bringen.

Das klingt geradezu paradiesisch. Möglich wird es, weil die Geltung von Recht und Gerechtigkeit, wo wie sie Gott fordert, zum Einklang mit ihm führt. Der Einklang mit Gott tut dem Leben gut, er fördert es und erhält es. Jeder, der nahe der Wüste oder sogar in ihr lebt, weiß um die wunderbare Wirkung einer nicht versiegenden Quelle.

Im Geplärr der ihrer Lieder muss das lebendige Murmeln des Wassers untergehen. Ja, selbst die, die sich für die Richtigen halten, nennen wir sie fromm oder informiert, sind taub für Gottes Wort und Weisung geworden. Ohne seine Einwände zu hören, leben sie an ihm vorbei.

Und Gott ist es leid. Seine Geduld ist arg strapaziert. (25)(a) Habt ihr vom Hause Israel mir in der Wüste die vierzig Jahre lang Schlachtopfer und Speisopfer geopfert? (26) Ihr truget den Sakkut, euren König, und Kewan*, den Stern eures Gottes, eure Bilder, welche ihr euch selbst gemacht habt; (27) so will ich euch wegführen lassen bis jenseits von Damaskus, spricht der HERR, der Gott Zebaoth heißt. [Am 5,25-27]

Alles, was ihr Teil am Bund mit Gott gewesen wäre, haben sie sträflich vernachlässigt, schon in den Tagen des Moses. Fremde Götter sogar, Sakkut und Kewan, Sterngottheiten aus Mesopotamien, haben sie in religiöser Beliebigkeit neben Jahwe gesetzt und damit das erste Gebot missachtet: „Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ [2. Mos 20] Der Bund ist gebrochen, seit selbst der Gottesdienst zum Ausdruck ihrer Selbstversessenheit und Gottvergessenheit wurde.

Unter den heutigen Hörern werden möglicherweise solche sein, die die Kultkritik des Amos gerne bejahen. Auf den ersten Blick mag man in Amos einen Kronzeugen jener Gottesdienstkritik vermuten, die dem Gottesdienst die Glaubwürdigkeit bestreitet, um derer Willen, die ihn feiern. Die Priester – Pfarrer – sind ganz offensichtlich nicht die besseren Menschen. Und – jetzt sind Sie an der Reihe – für die Gottesdienstbesucher gilt das auch. Die Schlussfolgerung ist schlicht: Um ein guter Mensch zu sein, braucht es keinen Gottesdienst. Sparen wir uns also das Geplärr der alten Lieder, schlafen wir lieber aus und schonen unsere Kräfte für die wahren Aufgaben des Lebens. Diese müssten ja folgerichtig darin bestehen „Recht und Gerechtigkeit“ zum Durchbruch zu verhelfen und vom Gottesdienst befreit als „guter Mensch“ zu leben. So gesehen mit Blick auf die leeren Plätze bei den Gottesdiensten, muss ja – verzeihen Sie – die Zahl der Heuchler in den letzten Jahrzehnten drastisch abgenommen und die der guten Menschen ungeheuer zugenommen haben. Täusche ich mich, oder wollen Sie sich auf diese Gleichung nicht einlassen?

Das wenigstens haben Sie mit jenen gemeinsam, die nicht nur auf den Gottesdienst pfeifen, sei es nun verlogener Frevel oder fromme Versammlung, sondern auch Gott für tot erklärt haben, um sich selbst zum Maßstab von Recht und Gerechtigkeit zu er-höhen. Ich halte die Auseinandersetzung mit dieser Lebensauffassung für die größere und wichtigere Aufgabe, die sich uns heute stellt. Es ist, so meine ich, gar nicht mehr zuallererst die Frage, welcher Gottesdienst Gott gefällt, sondern nach dem Gottesdienst überhaupt bzw. nach einer lebendigen Beziehung zum lebendigen Gott.

Amos, der aus dem Süden, hätte heute viel zu kritisieren – übrigens auch aus der Sicht eines Nord-Süd-Gefälles. Nun sind es nicht mehr Gottesdienste, in deren geistlichen Hohlraum das Geplärr der Lieder die Leere füllt, nun sind es internationale Konferenzen, sei es zur Klimapolitik, sei es wie einst zu Abrüstungs- und Friedensfragen oder zu den Menschenrechten. Viele Worte. Viele Absichtserklärungen. Oft auch Heuchelei. Lippenbekenntnisse. Und wie steht’s eigentlich mit unserer Toleranz gegenüber denen, die uns fremd sind? Die andere politische Auffassungen haben als wir. Die einem anderen Glauben anhängen. Die anders aussehen als wir. Die anders leben als wir. Und was sind wir bekennende Demokraten bereit für diese Demokratie und ihre Erhaltung einzusetzen, wenn die Banner eingerollt und die Sonntagsreden verklungen sind?

Dass Menschenbeziehungen verdorren, wo Recht und Gerechtigkeit versiegt sind, das zeigen uns die internationalen Krisenherde und, das bringt das Ganze wieder näher an uns heran, manche Konflikte, die wir in unseren Beziehungen und in Familien erleben.

Stünde Amos heute auf, um zu reden, er müsste mit seiner Kritik gar nicht so sehr bei den falschen Gottesdiensten ansetzen als vielmehr bei den falschen Göttern, denen wir anhängen. Sie nämlich nehmen uns die Luft, unseren Gott in Liedern zu preisen, sie nehmen uns die Zeit, mit unserem Gott zu sprechen und auf ihn zu hören, sie nehmen uns uns selbst weg, um uns zu besitzen.

Achten wir nur darauf, wem wir Opfer bringen – ist Gott, der Gott, der uns in Jesus Christus begegnet, ist er dabei? An welcher Stelle unserer Prioritätenliste steht dieser Gott?

Für Amos ist eine Welt ohne Gott undenkbar. Ist es doch Gott selbst, der in sein Leben eingreift. Warum sonst hätte er Haus und Hof stehenlassen sollen? Wer sonst hätte ihn bewegen können, in Bethel als ungerufener Mahner Anstoß zu erregen? Gott ist der Beweggrund – er, der Herr der Welt. Von ihm zu sprechen, sein Wort auszurichten, Zeugnis zu geben von seinem Willen, der gefallenen Welt, die sich selbst gefällt, die erlöste Welt zeigen, die Gott gefällt, Wege zum Leben suchen, finden und miteinander gehen, bei Gott sein – das ist der innere Sinn des Gottesdienstes. „Dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein hl. Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“ [WA 49,588] – hat Luther gesagt. Dann öffnet sich der Gottesdienst für die Welt – „kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ [Mt 11,28] – und er öffnet sich zur Welt hin: seine Worte und Klänge reichen hinein in den Alltag und seine Entscheidungen. Auf dass es […] ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. [Am 5,24]

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.