In diesem Jahr hatten wir begonnen, bei den Andachten „donnerstags um sieben“ die Fenster der kleinen Dorfkirche von Tudeley/Kent anzuschauen. Marc Chagall hatte sie im Auftrag der Familie d’Avigdor-Goldsmid beginnend in den 60er Jahren geschaffen. 1967 wurde das erste Fenster eingesetzt. Damals beschloss Chagall auch Entwürfe für die anderen Fenster zu machen. In den folgenden 15 Jahren wurde sie realisiert.
Hinter diesem Auftrag steht eine berührende Geschichte. Es ist die Geschichte eines schmerzlichen Verlustes. Am 19. September 1963 war Sarah, die Tochter von Sir Henry und Lady Rosemary d’Avigdor-Goldsmid bei einem Segelunglück zu Tode gekommen. Nachdem Lady Rosemary in einer Pariser Ausstellung Chagalls Entwürfe für das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem gesehen hatte, nahm sie Kontakt mit Chagall auf und konnte ihn gewinnen.
Es ist bemerkenswert, dass Marc Chagall, der auch hier aus dem Bilderschatz seiner weißrussischen Heimat schöpft, das Kreuz in die Mitte setzt. das macht ihn zum künstlerischen Brückenbauer zwischen Judentum, dem er angehört, und Christentum.
Unten rechts kauert eine trauernde Frau. Es ist die Mutter, die um ihr Kind weint. Es ist tot. Sie hat es verloren. Welch Schmerz!
Wir sehen diese Mutter noch einmal. Diesmal am Fuß des Kreuzes auf dessen rechter Seite. Sie ist nicht allein. Sie hält ihre beiden Kinder im Arm. Kaum dass die beiden sich unterscheiden. Das Gesicht des einen sehen wir eher schemenhaft. Aber doch gilt: Die Mutter hat beide bei sich an ihrem Herzen. Aber auch die junge Frau, die beim Segeln ums Leben kam, sehen wir an verschiedenen Stellen. Umgeben vom tiefen Blau sehen wir sie im Wasser liegen.
Dabei bleibt es nicht. Sarah wird von einem roten Pferd davongetragen und hin zu einer Leiter, die am Kreuz lehnt. Das rote Pferd wird als Ausdruck der Freude verstanden. Chagall hat wenig zur Deutung der Bildmotive gesagt, die er auch immer wieder verwendet. Sie kommen wohl aus den Erinnerungen seiner Kindheit.
Nun sehen wir Sarah auf der Leiter. Sie steigt empor zu Christus…
… und ist am Ziel. Sie begegnen sich von Angesicht zu Angesicht. Das Leid ist gewichen. Auch Christus lässt es nicht mehr erkennen. Wie Johannes, der Evangelist, ihn darstellt: Über den Dingen, ein König, der Leid und Tod souverän begegnet. „Es ist vollbracht“ , sagt er. Das soll unser Trost sein.