Die Geschichte ist in wenigen Sätzen erzählt. Ich habe die Darstellung aus dem Markusevangelium gewählt und lese zunöchst die Verse 3 bis 6 aus dem 14. Kapitel.

Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Denare verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.

Es ist eine eigenartige Situation. Jesus und seine Jünger sowie Menschen, die ihm nahestehen, sind versammelt, um gemeinsam zu essen. Der Ort: das Haus von Simon, dem (ehemals) Aussätzigen, der von Jesus geheilt worden war. Das zeitliche Umfeld: zwei Tage vor dem Passafest. Die Leidensgeschichte Jesu steht also unmittelbar bevor.

Ich stelle mir vor, wie die Anwesenden die Ereignisse der letzten Tage und Wochen diskutieren und Revue passieren lassen. Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem, begleitet von seinen Jüngern, gefeiert und begrüßt in allen Orten von vielen Menschen. Jesus, der Menschen heilt. Die Jünger, die das alles hautnah miterleben. Die Hohenpriester, denen die Beliebtheit von Jesus immer mehr zum Ärgernis wird und die darum finstere Pläne schmieden. Jesus, der das wohl weiß und immer wieder auf sein nahendes Ende hinweist. Die Jünger, die das noch nicht so wirklich wahrhaben wollen oder verstehen können. – Eine aufwühlende Gemengelage der Emotionen! Obwohl sicherlich jede und jeder der Anwesenden eine eigene Sicht auf die Geschehnisse hatte, eint sie vielleicht die Vorahnung, dass etwas Unheilvolles in der Luft liegt.

In dieser Situation betritt eine Frau den Raum, geht auf Jesus zu, zieht ein Fläschen aus Alabaster aus ihrer Tasche, bricht den Hals ab und gießt den Inhalt des Fläschchens auf Jesu Haupt. Intensiver Duft füllt den Raum. Alle Anwesenden wissen: das ist Nardenöl. Das Kostbarste, was man in der damaligen Zeit kaufen konnte. Ein Vermögen!

Die Reaktion auf diese Handlung folgt umgehend. Allein der Satzanfang »man hätte« sagt dann schon alles. Man hätte, man könnte, man sollte. Man! Nicht ich! Die anderen! Diese Frau. »Man hätte« – Wer so redet, rechnet schon. Offensichtlich wusste jemand im Raum, was der Inhalt des Fläschchens wert war. 300 Denare. Soviel wie ein Tagelöhner im Jahr verdiente. Oder soviel wie ein Mittelklassewagen im Jahr 2023.
Es ist wirklich kaum zu fassen, dass jemand so ein riesiges Vermögen in Sekundenschnelle buchstäblich – um es mal ganz salopp zu sagen – auf den Kopf haut.

Was treibt diese Frau an?

Im Johannesevangelium wird diese Geschichte auch erzählt, und hier heißt die Frau Maria und ist die Schwester von Martha und Lazarus. In diesem Fall wäre sie Jesus schon mehrfach begegnet. Aus den Beschreibungen wissen wir, dass sie Jesus sehr schätzte und in ihr Herz geschlossen hat. Doch ist es so wichtig zu wissen, wer die Frau war? Wenn es nicht Maria war, dann war es eine andere Frau, die Jesus bewunderte und als ein großes Vorbild betrachtete.
Die Antwort, was diese Frau antreibt, kommt von Jesus selbst. Ich lese die nächsten Verse aus dem Markuskapitel.

Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun: mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.

Wir wissen nicht, ob die Frau tatsächlich ahnte oder wusste, dass Jesus bald sterben würde und ihn daher salbte. Oder ob sie ihn gar zum König salben wollte, wie Samuel David zum König gesalbt hatte. Was wir aber im Markustext hören, ist, dass Jesus, der sein Leben in den Dienst der Menschen gestellt hat, es genießt, selbst auf so wundersame Art bedient zu werden. Er sieht in dieser Begegnung die bedingungslose Liebe eines Menschen. Die Frau hat sicherlich keine Überlegungen angestellt, die mit »man hätte« beginnen. Sie hat aus Liebe gehandelt, und Liebe rechnet nicht.

Ob das die Jünger verstehen? Ob wir das verstehen?

Wenn wir Jesus als das Wertvollste im Leben ansehen, wird alles andere nachrangig.
Wir ahnen, dass Geld und Wohlstand nicht alles im Leben bedeuten. Wir erfahren, dass ein offenes Ohr für einen Freund unendlich bereichernd für beide sein kann. Dass ein Engagement für eine gute Sache nicht mit Geld zu bezahlen ist. Dass, wenn wir für Jesus brennen, nicht alles mit Vernunft zu erklären ist.

Bedingungslose Hingabe, Liebe, die nicht rechnet. Was wollen wir mehr?

Jesus schließt sein Plädoyer für die Frau mit dem Satz »Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.«
Amen

Dorothea Lindenberg

Fürbittengebet

Guter Gott,
morgen wird sich der Angriff Russlands auf die Ukraine und der daraus erwachsene fürchterliche Krieg jähren. Ein Jahr, in dem wir nicht mehr für möglich gehaltene Bilder in Europa ertragen mussten. Wir denken im Gebet an alle Soldatinnen und Soldaten, an die Verletzten und Verwundeten, an verschleppte und misshandelte Menschen, an Menschen, die Angehörige und Freunde verloren haben, an Menschen auf der Flucht, an Alle, die schweres Leid zu tragen haben. Und wir beten für die Frauen und Männer,
die – trotz aller Rückschläge – nach Wegen der Verständigung suchen. Wir beten für weitere Zeichen der Hoffnung, um unseren Glauben an ein Ende dieses Krieges nicht zu verlieren.
Wir beten für alle Helferinnen und Helfer, die versuchen, Leid zu lindern und Trost zu spenden. Wir denken an die vielen Menschen, die helfen, wenn es darauf ankommt. Die Zivilcourage zeigen, wenn es notwendig ist. Die nicht auf Kosten oder Umstände achten, sondern anpacken, wenn es die Situation erfordert. Wir bitten Dich, diese Menschen, unter Deinen besonderen Schutz zu stellen und Ihnen Mut zu geben, wenn sie zweifeln. Und wir beten besonders für die Menschen, die Versöhnung suchen und aufeinander zugehen, ja, die sogar mit ihrem Leben einstehen wollen, für das, was sie denken, was sie glauben, was sie sind. Gib Ihnen Kraft, weiter an Ihre Überzeugungen zu glauben.
Guter Gott, seit gestern wollen wir mit der begonnenen Fastenzeit an die Leidensgeschichte Jesus erinnern und uns auch Zeit für Besinnung und Gebet nehmen . Wir bitten Dich um Kraft und Stärke, diese Zeit des selbstgewählten Verzichts durchzuhalten und mit anderen in gemeinsamer Verbundenheit zu sein.
Lass uns in dieser Zeit auch die Dinge neu entdecken und schätzen lernen, die wir haben und auf die wir vertrauen können.
Amen.

Andreas Kernbach