Text: 1. Mos 16,13
Thema: Gesehen
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wie in großer Leuchtschrift steht der Satz über uns, über jeder und jedem von uns, der in diesem zu Ende gehenden Jahr die Jahreslosung gewesen ist. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ [1. Mos 16,13]
Der Satz leuchtet verheißungsvoll in das Dunkel, in die Schattenseiten des Lebens, ja selbst in die Nacht des Todes. Dabei zeigt er zwei Gesichter. Zum einen: Er charakterisiert den Gott, an den wir uns im Glauben wenden. „Du, guter Gott, erhöre mich!“ Und dieser ist einer, „der mich sieht“. Zum anderen: Er ist die Erkenntnis und zugleich das Bekenntnis einer Frau, die oft genug übersehen wird: Hagar.
Nur kurz die Geschichte, damit wir uns erinnern. Bei Sara und Abram gehen die Jahre ins Land. Zwar ist den beiden eine reiche Nachkommenschaft verheißen, aber es tut sich nichts. Alles versucht – ohne Erfolg. Sara, die Zupackende, sieht die Dinge so, wie sie sind. Länger zuwarten kommt nicht in Frage. Aber da ist doch die junge Hagar, die ihr auch sonst zur Hand geht. Das ist ihr Job, würden wir sagen. Sie ist die Magd. Untergeordnet. Zu Zurückhaltung und Gehorsam verpflichtet. Mir keiner Mitarbeitervertretung und keinem Betriebsrat im Rücken. Sara hat die Idee! Soll doch ihr Mann, Abram, mit ihr das Kind, nein, was sage ich, den Sohn zeugen, auf den Sara und Abram so sehnlich warten. „Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais.“ [1. Mos 16,2] Donnerwetter! So ohne Umschweife geht das. Das nenne ich mal Pragmatismus. Der Plan geht auf. Das Kind wird kommen und mit ihm ein Gefühl der Überlegenheit seiner Mutter. Die Aufmerksamkeit Abrams für die künftige Kindsmutter bleibt, und die Eifersucht der Anstifterin brennt. Sara sorgt dafür, dass die nun als Konkurrentin wahrgenommene Hagar verschwindet. Mobbing würden wir dazu sagen. Bald jedenfalls sehen wir die in die Wüste Geschickte ebenda. An einem Brunnen redet ihr einer, der es wissen muss, ein Engel, gut zu. Er empfiehlt ihr, sich dem Vorrang Saras zu beugen und winkt dabei mit reicher Nachkommenschaft. Ihr Sohn, den sie Ismael nennen soll, wird deren Stammvater sein. Die Bibel sieht in ihnen die Araber und aufgrund dieser Geschichte Abram als den Urvater sowohl der Juden als auch der Araber, der späteren Muslime.
Ahnten wir zu Jahresbeginn, was am 7. Oktober losbrechen würde? Dass die Spirale der Gewalt zu weiteren, neuerlichen, alles Dagewesene überbietenden Drehungen fähig wäre. Und fragten wir uns angesichts der Opfer und der Zeugen des Massakers nicht, ob Gott sie und ihr Schicksal gesehen habe. Und während unsere Aufmerksamkeit der dann einsetzenden militärischen Reaktion galt, und wir auch da das Leid der Unschuldigen beklagen mochten, ließ der Aggressor im Osten Europas Tod und Zerstörung auf sein Nachbarland regnen. Wir wurden gewahr, dass die zivilisatorischen, in internationalen Verträgen fixierten Errungenschaften von Menschenrecht und Kriegsrecht, Genfer Konvention bis zur Charta der Vereinten Nationen Makulatur waren, ja, die Vereinten Nationen ein zahnloser Tiger, fast schon eine Geisel in den Händen derer, denen das Leben und die Freiheit der Menschen nichts bedeutet. Wir sind erschrocken. Und wir sind als wohlinformierte Zuseher zu einer fast unerträglichen Ohnmacht verurteilt.
Und dann das verheerende Erdbeben im Frühjahr, das im Süden der Türkei ganze Orte und Städte auslöschte. Man mochte an das große Beben in Lissabon denken, das am 1. November 1755 die ganze Stadt in Trümmer legte und Tausenden das Leben kostete. Es warf in der Folge die Frage auf, die Menschen nicht erst seither aber immer wieder bewegt: Wo bist Du Gott? Wie kannst Du das zulassen? Theodor Adorno sieht eine Analogie zwischen der Zerstörungsmacht des Erdbebens und der menschlichen und moralischen Verheerung des Holocausts.
Und wir? Wir haben die Preise verglichen. Vor der Inflation, nach der Inflation. Waren beschäftigt mit den innenpolitischen Erschütterungen, die ein Gebäudeenergiegesetz auszulösen vermochte, mit Landtagswahlen, in denen der Zuzug von Flüchtlingen und seine Begrenzung ein beherrschendes Thema war, und schließlich mit des Kaisers neuen Kleidern, dessen Blöße das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für den Bundeshaushalt feststellte. Ein wenig wehleidig, verliebt ins Kleinklein, zu weitreichenden Entschlüssen nicht willens oder nicht fähig, so konnte man uns wahrnehmen.
Wir sahen infernalische Waldbrände, rasende Windhosen und durchschlagenden Hagel, lange Trockenzeiten, niederdrückende Schneemassen und schließlich endlosen Regen, der in Hochwasser mündete. Ist die Welt aus den Fugen? Verstehen wir die Zeichen der Zeit recht? Wollen wir nur gesehen oder sind wir selbst bereit zu sehen?
Wir nahmen Abschied von Menschen, die uns viel bedeutet haben. Wir spüren noch den Schmerz, sind noch beherrscht von der Trauer und fangen an, unser Leben neu zu buchstabieren. Und oft haben wir uns an Gott gewandt: Sieh doch! Der Wunsch dafür postwendend die Bestätigung zu erhalten, kommt immer wieder durch. Als ob Gott die Welt als Marionettentheater betriebe. Als ob wir nicht selbst das meiste Unglück und Elend hervorbrächten.
Werden wir uns darum von Gott abwenden? Werden wir ihn als Erfindung derer abtun, die sich der harten Realität nicht zu stellen vermögen? Werden wir in uns, den Menschen, die bessere Alternative erkennen?
Müssen auch wir erst wie Hagar in die Wüste geschickt werden, um den Brunnen zu finden und den Boten, den Engel, zu hören, der uns erklärt, was es mit uns und unserer Bestimmung auf sich hat? „Not lehrt beten“, sagt man. Ist das so? Wie groß muss die Not dann werden?
Andererseits, wer weiß denn, wer nicht alles schon am Brunnen saß in diesem zu Ende gehenden Jahr. Verwirrt und ohne Richtung, wo es hingehen sollte. Bis dann eine Botschaft, ein Wort vielleicht, ein Licht, eine Geste, eine Begegnung den Fragen zu Antworten verhalf, das Suchen ins Finden wendete, den Zweifel am Sinn mit der Erkenntnis einer Bestimmung ausräumte? Und was würde aus uns werden, wenn wir das Vertrauen wegwürfen, dass unser Gott da ist, ja, uns zur Seite steht „am Abend und am Morgen“? Manchmal muss der Glaube, das tiefste Vertrauen auf diesen „Gott, der mich sieht“ durch Anfechtung und Zweifel hindurchgehen, um hinter allen Widerfahrnissen und Schrecken, allem Fragen und Rätseln diesen Gott wieder zu entdecken und zu spüren. Drum wünsche ich Ihnen und uns allen in den Momenten am Brunnen in der Wüste den Boten des Herrn, den Engel, der den Weg zu weisen weiß auch im kommenden Jahr.
Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.