Reformationsfest
Text: Mt 5,1-10
Thema: Auf Gott sehen macht selig
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Selig sind, die geistlich arm sind. Bin ich arm, arm genug, selig zu sein? Selig sind, die Leid tragen. Trage ich, trage ich genug? Selig sind die Sanftmütigen. Bin ich sanftmütig, sanftmütig genug? Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Hungert und dürstet mich danach? Selig sind die Barmherzigen. Und bin ich barmherzig, barmherzig genug? Selig sind, die reinen Herzens sind. Was ist mit meinem Herz – reicht’s für die Seligkeit? Und was ist mit meiner Friedfertigkeit? Die reicht wohl kaum. Und wann bin ich um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden?

Ich komme zu einer ernüchternden Bilanz. Zur Seligkeit reicht’s bei mir wohl nicht. Nun gut, es sind ja auch die Jünger, denen Jesus die Rede auf dem Berg hält. Die haben einiges hinter sich und auch einiges hinter sich gelassen, um ihrem Herrn zu folgen. Da kann ich nicht ran.

Luthers Diktum „Wir sind Sünder allzumal“ nehme ich persönlich. Gott fern zu sein, das ist eine Standortbestimmung, die treffender ist, als mir lieb ist. Und jetzt?

Jetzt bin ich da, wie der Hund unterm Tisch, der wohl mit-bekommt, wie’s den andern schmeckt, selbst aber leer ausgehen wird.

Was tun? Was kann ich tun? Ich habe doch längst verinnerlicht, dass es an mir liegt, dass ich es in der Hand habe, wie’s mir ergeht, dass ich schon selbst an meinem Glück zu schmieden habe.

Habe ich deshalb die Sätze vom Anfang jener Rede Jesu auf dem Berg als Bedingungen gehört? Als Vorhaltungen mit der Maßgabe: Streng dich an; damit du nicht leer aus-gehst, wenn’s um die Seligkeit geht.

Unversehens bin ich in die Nachbarschaft des Augustiner-mönchs geraten, der sich lang auf dem Boden der Kloster-kirche ausgestreckt hat. Es ist kalt dort und seine Kleidung ist dürftig. Trotzdem harrt er so Stunden aus. Betet, fleht, klagt: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Was kann ich noch tun, damit Gott mir gnädig ist?

Auf’s Gründlichste erforscht er seine Seele. Er kommt zu dem Schluss: Für Gott bin ich nicht gut genug.

Das ist, wenn ich genau bin, der einzige Berührungspunkt zwischen seiner und meiner Situation. Ich habe lange nicht so viel darauf verwendet, Gott zu gefallen wie er.

Aber er kommt nach allem, was er versucht hat: Gebetszeiten, Bußzeiten, Fastenzeiten eingehalten, Verzicht geleistet, Gehorsam gelebt, Hingabe praktiziert – er kommt nach alledem zu dem Schluss: Es reicht nicht. Ich komme mit Gott nicht auf Augenhöhe. Ich erreiche nicht die selbstgewirkte Seligkeit.

Das wissen wir inzwischen vermutlich alle. Kraft eigener Anstrengung werden wir nicht so, dass wir Gott und seinem Willen entsprächen. Häufig genügen wir nicht einmal uns selbst und bleiben hinter unseren guten Vorsätzen und edlen Absichten zurück. Nochmal zu Luther.

Er hat die Seligpreisungen von Kindesbeinen an als Evangelium an Allerheiligen gehört. Kann sein, dass er die Bewegung verspürt hat, die diese Worte auszulösen vermögen. Als Erwachsener hat er offenbar den Anspruch, der in ihnen mitschwingt, stärker wahrgenommen als den Zuspruch. Da wusste er noch nicht, dass Seligpreisungen, wie sie auch in der Hebräischen Bibel vorkommen, eine Gattung sind, formelhafte Wendungen, die einen Zuspruch artikulieren.

„Selig“ – griechisch „makarios“ – meint im religiösen Sinne „ewige Freude und Sicherheit in der Gemeinschaft mit Gott“ [Grimms Wörterbuch XVI, 530]. Selig können Tote und Lebende sein. Was meint denn dieses „selig“? Wer selig ist, ist bei sich selbst, ist im Einklang mit den unverfügbaren Bedingungen des Lebens, mit allem, mit Gott. Eine Art Glücksempfinden, wenn Glück nicht nur die Verwirklichung persönlicher Wünsche, Vorstellungen und Absichten bedeutet, sondern gerade auch die Einwilligung in den weiten Erfahrungsraum von erfüllten und unerfüllten Wünschen, Absichten und Vorstellungen. Wenn ich meinen Frieden damit machen konnte, dass so das Leben ist – auch meines, so wechselvoll, so spannungsvoll zwischen Freude und Leid, Glück und Unglück, Macht und Ohnmacht, Liebe und Gleichgültigkeit.

Walter Benjamin, der Philosoph, hat formuliert: „Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst inne werden zu können.“ Dann kann ich sagen: So bin ich. Ich kann es sagen, ohne zu vertuschen, ohne mir und andern etwas vorzumachen. So bin ich.

So ist auch die Welt. Oft unselig in ihren Lebensäußerungen, in Gewalt und Krieg, in Ansprüchen, Neid und Gier, in der schier unbesiegbaren Sorge, man könnte zu kurz kommen, veranschaulicht die Welt, wie sie ist, was Luthers in die Jahre gekommene Erkenntnis meint: „Wir sind Sünder allezumal“ [vgl. Rm 3,23]. Das allerdings verringert die Distanz zwischen Gott, dem Luthers Sehnsucht gilt, und ihm, der sich erkannt hat und dasteht und nicht anders kann, keineswegs. Erst als er in der Schrift den Schlüssel entdeckt, nämlich in den Psalmen und im Brief des Paulus an die Römer, löst sich die für ihn fast unerträgliche Spannung. „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ [Röm 3,23f.] Das liest er bei Paulus und sein Resumée ist das des Apostels: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ [Röm 3,38]

Von da aus, bricht er zur Reformation der Kirche auf. Es ist die Frucht seiner Frömmigkeit. Sie findet auf dem Hintergrund einer aus dem Mittelalter kommenden Kirche mit ihren Formen von Frömmigkeit und Lebensgestaltung statt. So sind die Bedingungen ganz andere, als wir sie heute vorfinden. Gleichwohl verspüren auch wir die Notwendigkeit einer Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern. Noch stammeln wir herum. Noch sehen wir geistlich nicht klar, was Gott mit uns vorhat.

Will er uns herausfordern? Will er uns prüfen? Wird er uns zur Seite stehen? Muss die Kirche armselig werden, um den Weg zur Seligkeit wieder beschreiten zu können? Muss sie zum kleinen Häuflein, vielleicht sogar zum kleinen, verachteten Häuflein werden, damit sie ihren Platz an der Seite der Verachteten, Geringgeschätzten wieder einnehmen kann? Muss uns die Krise der Kirche, die wir auch in unseren Gemeinden spüren, erst demütig machen und ratlos, geistlich arm, damit wir Gott, damit wir Jesu Botschaft wieder hören. Dann treffen wir uns womöglich mit Bruder Martin, um mit ihm auf Gott zu sehen

Was spricht uns heute an? Was vermag uns weiterzuhelfen, beinahe 500 Jahre später?

Luthers Einsicht macht auch für uns den Weg frei, auf Gott zu sehen, wo wir im Innersten unserer selbst erschüttert sind:

–              von den Zumutungen des Lebens

–              von der tatsächlichen Ohnmacht angesichts der

                Fragen von Leben und Tod

–              von den engen Grenzen unserer Möglichkeiten und

der großen Verantwortung, die wir dennoch in unserem persönlichen Lebensbereich und für das Ganze der Welt haben…

In dieser zu reformierenden Kirche werden Kennzahlen, Kollektenkonto-Verwaltung, Umsatzsteuer und andere Ungeheuer der verwalteten Kirche keine große Rolle mehr spielen.

Gott will und muss nicht verwaltet werden. Seine Liebe und seine Gnade, die Geschenk sind, entziehen sich geradezu menschlichen Ansprüchen und Zugriffsmöglichkeiten. Es gibt keine Verwaltung der Gnade, stellt der Reformator fest, und folglich auch keine Verwalter, mögen sie heißen, wie sie wollen.

„Einen Gott haben“ heißt, dass „du herzlich ihm traust und dich alles Guten, Gnaden und Wohlgefallen, zu ihm vor-siehst“ [Sermon von den guten Werken, WA 6,209]. Das ist ein sehr persönlicher Vorgang. Du selbst bist angesprochen und gefragt. Wie hältst Du’s?

Wer Gott vertraut, hat sich von der Illusion verabschiedet, sein Glück oder gar seine Seligkeit selbst herstellen zu müssen oder auch nur zu können. Denn seine Seligkeit „wird sich als selbst finden und folgen dem Reich Gottes“ [Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien, WA 2,98].

Spätestens jetzt vermag ich die Seligpreisungen als Zu-spruch zu hören. Sie gelten allen, die auf Gott schauen, vielleicht sehnsüchtig, vielleicht in Not, vielleicht in aller Ein-falt – wie auch immer!

Selig seid ihr, die ihr auf Gott seht!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.