12. Sonntag nach Trinitatis
Text: Jes 29,17-24
Thema: Rückbesinnung
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Liturgie Sandra Rösner, Predigt Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Im 29. Kapitel des Jesaja-Buches malt der Prophet ein düsteres Bild. Er tut dies in einer Zeit der krummen Rücken. Das Land, das den Israeliten als das gelobte Land gilt, stöhnt unter der Knute der Tyrannen. Ein großer Teil der Bevölkerung war verschleppt und leistete im Zweistromland Frondienste. Babylon – so buchstabiert sich Elend für Israel. Denn die restliche zurückgelassene Bevölkerung konnte den Niedergang des Landes nicht aufhalten. Auf den Äckern schon beginnt die Kultur brachzuliegen. Und der Zusammenhang zwischen der „Pflege“ einer Land-schaft und ihrer „Kultur“ ist hier offenkundig. Sobald die Bewässerungssysteme nicht mehr gewartet werden und versanden, versandet auch der Wohlstand. Ernten bleiben aus, Pflanzen, auf Wasser angewiesen, vertrocknen. Eine Landschaft verändert sich. Statt Wohlstand Wüste. Dem äußeren Verfall entspricht ein innerer Zersetzungsprozess. Wie immer in solchen Phasen, wenn es an allem fehlt und insbesondere an denen, die pflegen, werden Recht und Gerechtigkeit mit Füßen getreten. Kriegsgewinnler treten auf, Zyniker ziehen alles in den Schmutz, Skrupellose beugen das Recht. Neue Unterdrücker wenden neue Methoden an. Der Stolz der Menschen bleibt gebrochen. Schließlich fault die Gesellschaft von innen.
Wer dem ausgesetzt ist, sehnt sich nach Veränderung. Die stellt der Prophet in Aussicht. Er zeichnet ein Gemälde der Zukunft, das sich wohltuend von diesem dunklen Hintergrund abhebt.
(17) Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. (18) Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; (19) und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. (20) Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, (21) welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. (22) Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. (23) Denn wenn sie sehen, werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. (24) Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.
Das ist ja mal eine Vision! Buchstäblich aus heiterem Himmel. Ein Gegenbild – eine andere Welt wird hier beschrieben, deren Chance in der Wende besteht, in der Hinwendung zu Gott, Jesus würde von Umkehr sprechen.
Viel spricht dafür, dass dieser Text aus dem 3. Jh. v.Chr. stammt. Dann hätten seine Worte unter dem weiten Dach des Prophetenbuches Jesaja ihren Platz gefunden. Dann wären die Anspielungen auf das Trauma Babylon die Folie für eine Betrachtung der Gegenwart und der Vision einer besseren Zukunft. Da wird sogar die Natur sich wieder erholen. Der Libanon wird fruchtbares Land werden und wo sich jetzt die Bauern mühen, der kärglichen Scholle eine Ernte abzuringen, wird ein Wald aufwachsen.
Hier redet einer der Hoffnung das Wort. Warum auch nicht? Auch zweihundert Jahre nach dem Ende der Deportation erinnert man sich daran und auch daran, dass es danach wieder aufwärts ging. Der Wiederaufbau des Tempels war das sichtbare Zeichen dafür. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit: „Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;“ [Jes 29,18] Ja, für den, der die Worte des Buches hört, erhört, wird die Zukunft in helles Licht getaucht. Die Zeit der Strafe ist vorüber. Die Zukunft steht wieder offen. Und das Wichtigste: Gott spricht wieder mit seinem Volk.
Ist dem so? Gilt das auch jetzt, 200 Jahre später, da der Text entsteht? Jetzt kommen die Feinde aus anderen Gegenden der Welt. Die Feldherren tragen griechische Namen. Ihre Heere transportieren neben ihrem Kriegsgerät eine neue Kultur in die eroberten Länder. Wir sprechen vom Hellenismus, für den kein anderer so steht wie Alexander der Große. Dessen Lehrer war kein Rabbi gewesen, sondern ein Philosoph mit Namen Aristoteles. In Alexanders Reich haben viele Gottheiten Platz, am hellsten aber strahlt die Goldkrone des Makedoniers. „Erfolg macht sexy“, sagt man. Alexander wird so etwas wie eine Ikone seiner Zeit.
Die griechische Kultur wird in den Augen vieler Zeitgenossen der Schlüssel zum Erfolg. Das wird auch in Palästina so sein. Manche machen mit, finden im Neuen das Zukunftsträchtige. Dann sind da noch die anderen. Sie sehen die Ursprünge und das Ursprüngliche bedroht und unterdrückt. Die Veränderungen sind groß. Die daraus resultierende Verunsicherung ist es auch.
Der Prophet bietet seinen Zeitgenossen eine Rückbesinnung an. Die Rückbesinnung auf Gott und seine Taten. Sie ist auch eine Rückbindung an Gott. Nichts anderes meint das lateinische „religere“ – „zurückbinden“, was mich gleich an die Reben eines Weinstocks denken lässt. Das gibt Halt und Sicherheit in der Unterscheidung, was zu mir passt und was nicht.
Seinen Gott erkennen, das heißt schon im 3. Jh. v.Chr. Aufklärung in der Auseinandersetzung mit Götzen und Göttern.
Seinen Gott kennen, mit dem es eine lange gemeinsame Geschichte gibt, das stiftet Identität. Denn aus dieser Geschichte ist man hervorgegangen. In ihr haben bestimmten Geschichten und ihre Überlieferung ihren Platz, Bilder, bei deren Verwendung jeder sofort weiß, was gemeint ist, Worte, deren Klang viel weiter reicht als der schlichte Begriff vermuten lässt.
Nun leben wir im 21. Jh. n.Chr.. Viel Zeit ist ins Land gegangen. Zeit, in der Gott gegenwärtig war und Zeit, in der Gott vergessen wurde. Geblieben sind Veränderungen. Sehen wir uns nicht selbst in einem gewaltigen Veränderungsprozess, der, so kommt einem vor, an Geschwindigkeit immer noch zunimmt? Hier sehe ich einen Anknüpfungspunkt für uns.
Wir leben mittlerweile in einer offenen und bunten Gesellschaft. In ihrer freiheitlichen Ordnung ist fast alles erlaubt. Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Andererseits,
und mitunter ist das merkwürdig, gibt es als Verbotenes oder Unsägliches gekennzeichnete Meinungen und Vorstellungen. Die werden ergänzt durch ein „must have“ von Vorstellungen, Einstellungen und Erfahrungen. Gleichzeitig gibt es ein enormes Bemühen um Individualität. Und viele enden gerade dabei in der Uniformität. Frisuren, Tattoos und Mode sprechen Bände. „Richtig“ sein zu wollen, erzeugt für viele einen ungeheuren Druck. Und binnen Kurzem ist das eben noch Angesagte out. Moden und Meinungen wechseln in rascher Folge. Viele sind bemüht, nicht gegen den Strom zu schwimmen. Wohin aber schwimmt der Strom? Schwemmt er uns nicht mal hierhin und mal dorthin?
Was dient der Orientierung? Die veröffentlichte Meinung? Meinungsumfragen? Trends? Reicht uns das? Brauchen wir überhaupt einen Kompass oder einen Anker, etwas, woran wir uns halten und was uns hält? Allein die Tatsache, dass wir heute Morgen hier sind, zeigt, dass wir Orientierung und Vergewisserung suchen. Wir ringen mit all den Veränderungen: Natur, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Selbstverständnis. Manche nehmen wir als notwendig an, andere können uns nicht so recht überzeugen. Aber wir tragen in uns einen Kompass. Dessen Nadel richtet sich immer wieder auf den einen aus. Selbst, wenn sie den mal verloren hat, nach einer Weile ist sie wieder bei ihm. Unser Norden ist Christus.
Was die geschundenen Fluchten des Libanon wieder fruchtbar, und was auf den kahlen Höhen Judas wieder Wald wachsen lässt, das zeigt sich uns im Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi. Gott handelt. Er handelt, wo uns die Hände gebunden sind. Er tut es für uns, obwohl wir das Vertrauen auf ihn so leicht dahingeben. Er tut es trotzdem und nimmt uns, wie wir sind. Er zerbricht das geknickte Rohr nicht und er löscht den glimmenden Docht nicht aus. [vgl. Jes 42,3]
Gott kennt uns. Kennen und erkennen wir ihn auch? Das zeigt sich auch darin, welche Geschichten wir erzählen. Welche Bilder und welche Worte wir weitergeben. Welche Traditionen wir pflegen. Womit wir die Zeichen der Zeit deuten. Und wer in dieser Zeit mein Gegenüber ist. Wer ist mein Gott?
Das ist die Frage.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.