Totensonntag
Text: Dan 12,1b–3
Thema: Ansage
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Ein trauriger Anlass führt uns zusammen. Der Vater ist gestorben, die Frau, das Kind, der Mann. Schmerz und Klage sind an die Stelle von Hoffen und Bitten in den letzten Tagen getreten. Jetzt ist das geschehen, was wir kommen sahen, am liebsten aufgehalten oder verhindert hätten, was dann doch übermächtig kam, oder was uns überrascht hat von einem Moment auf den anderen. Mal leise, fast heimlich, mal mit Ansage oder in großer Dramatik, aber eben unwiderruflich. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Manchmal ist es fast unwirklich still. Keine Atemzüge, die uns vertraut waren und auf die wir aufmerksam geachtet hatten. Kein Rascheln, kein Klappern, kein Wort – nicht am Frühstückstisch und auch nicht abends vor dem zu Bett gehen. In der Stille sind die inneren Stimmen laut. Sie stellen bange Fragen, flüstern Liebkosungen und geben der Klage Raum. Der Tod hat uns einen Teil unseres Lebens, den Menschen unserer Nähe, entrissen. Ja, auch ein Stück von uns hat er mit sich genommen. Was übrig ist von uns, ist nicht mehr dasselbe, das zuvor war. Und was war das überhaupt? War nicht alles vergebens, was da war?
In diesen Tagen sind wir, auch als selbst Trauernde, Zeugen großer Trauer. Sie erfüllt die Menschen, denen Terror oder Krieg das Kind, den Mann, die Großmutter oder Freund und Freundin entrissen hat. Einzelne trauern und viele trauern miteinander. Kann sein, dass sie sich an Daniel erinnern, die Prophetengestalt, aus der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus. Im 12. Kapitel lesen wir nach und nach die Verse 1-3. Gleich zu Beginn nehmen die Worte uns für sich ein. Trifft nicht die Ankündigung, rückblickend betrachtet, unser Empfinden? „Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist,“ [Dan 12,1b]. Die gegenwärtige Not stellt, so ist die Empfindung, alle andere Not in den Schatten. Das empfindet der einzelne nicht anders als die Gemeinschaft. Die hat Daniel im Blick: „Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit.“ [Dan 12,1b]
Es dauert nicht lange, und unsere Trauer hat sich herumgesprochen. Nachbarn kommen, Freunde und Bekannte. Manche drücken uns nur stumm die Hand, während wir einander mit feuchten Augen ansehen, manche wählen die geprägte Form, um das zu sagen, was auch viele Worte kaum fassen können. „Mein Beileid“. Häufiger als sonst klingelt das Telefon und steht der Postbote vor unserem Briefkasten. Kondolenzschreiben kommen. Darunter sind solche, die uns tief berühren, weil die Worte so einfühlsam gewählt sind oder von dem Menschen, um den wir trauern, so wohlwollend und wohltuend sprechen. Bald scharrt auch der Amtsschimmel mit den Hufen, und es gibt unendlich viel zu regeln. Für eine kleine Zeit kann solche Inanspruchnahme uns ablenken, aber bald darauf kehren wir zurück in das Land der Trauer. Das ist weit. Darin sind Wege zu erkennen, Erhebungen mit zu vermutender Aussicht, aber auch tiefe Täler, ja, Abgründe, in denen die Verzweiflung auf einen wartet.
„Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen.“ [Dan 12,3]
Den Einspruch, dieses „Aber“ soll das Volk hören, das am Elend verzweifeln mag. Wir hören es auch als Einzelne. Und es gilt uns auch. Es ist die Behauptung, eine mutige, ja trotzige Behauptung, dass es eine Rettung gibt. Der Tod hat nicht das letzte Wort, das ist die Behauptung. Das letzte Wort hat der, in dessen Buch des Lebens unsere Namen geschrieben sind [vgl. Phil 4,3].
Wie aber soll die Rettung nun geschehen? Was kann uns aus dem Tod retten und damit, was kann uns aus der Trauer herausrufen? Bei Daniel heißt es: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.“ [Dan 12,2]
Vor unserem inneren Auge haben wir einen Scheideweg vor uns – vielleicht auch eine der vielen bildhaften Darstellungen des Weltgerichts. Die einen, zur Rechten, gehören erkennbar zu Jesus, dem Auferstandenen. Sie haben sich auf die eine oder andere Weise an ihm festgehalten, was sich nun bewährt.
Otto von Schwerin dichtet im 17. Jh.: „Ich bin durch der Hoffnung Band / zu genau mit ihm (Jesus) verbunden, / meine starke Glaubenshand / wird in ihn gelegt befunden, / dass mich auch kein Todesbann / ewig von ihm trennen kann.“ [EG 526,3]
Gehören wir dazu? Oder doch nicht? Womöglich reihen wir uns bei denen zur Linken ein, deren Verderben eine ausgemachte Sache zu sein scheint.
Wenn wir über unsere Verstorbenen sprechen oder andere reden lassen, wollen wir „nihil nisi bene“, „nichts, außer auf gute Weise“ sagen und hören. Unversehens werden wir zu Fürsprechern (advocati). Die Betonung liegt auf dem Guten, vielleicht sogar Großartigen. Dabei wissen wir: Er oder sie war nicht immer nur großartig. Großartige Menschen verdienen Liebe. Der Rest von uns braucht sie – Lebende und Tote.
Wir vergessen aber auch dann nicht: Gottes Gericht über das Leben eines Menschen ist nicht die Trauerrede oder Volkes Stimme beim Flannes. Gott sei Dank. Für uns tritt Christus ein, so mühselig und beladen [vgl. Mt 11,28] wir auch sein mögen. Dass es gerecht zugehen möge, das wollen wir sicher auch. Oder sollen Übeltäter, die das Leben anderer Menschen zerstören, hier gelobt und dort im Buch des Lebens verzeichnet sein? Lieber soll Gott sie totschweigen, kein Wort für die übrig haben. Aber was rede ich? Es ist an Gott zu entscheiden.
Wir gehen mit allem, was unser Leben ausgemacht hat, zu Gott. Schon der Gedanke daran veranlasst uns, über uns nachzudenken. Was macht denn eigentlich mein Leben aus? Wie bin ich in meinem Leben unterwegs? Habe ich schon verstanden, was sein Sinn ist, oder bin ich noch auf der Suche? Nutze ich die Zeit, die mir gegeben ist, oder verplempere ich sie mit allerlei Nebensächlichkeiten?
Nicht zuletzt der Tod und die Vorstellung vom Gericht rufen uns zu „Mensch, werde wesentlich!“ [Angelus Silesius] Fulbert Steffensky meint gar: „Wir haben als Menschen ein Recht auf das Jüngste Gericht. Wir haben ein Recht darauf, einmal unverhüllt vor dem Antlitz Gottes zu stehen, wo und wie auch immer – das weiß nur Gott. Es ist eine Gnade, zu erkennen, wer wir sind und was wir waren.“
Ja, aber zu dieser Gnade der Erkenntnis braucht’s gewiss noch die Gnade der Barmherzigkeit Gottes. Die kann ich nicht verlangen, wer bin ich denn, um die können wir nur bitten für unsere Verstorbenen und uns selbst: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.“ [Ps 51,12f.]
Längst haben wir den Schmiedehammer zur Seite gelegt. Wir sind nicht unseres Glückes Schmied. Es braucht mehr und anderes, als wir dazu beisteuern können, damit Zufriedenheit bei uns einkehrt und uns Frieden erfüllt. Es ist die Liebe Gottes, auf die wir vertrauen. Wie Paulus an die Römer schreibt: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Gottesferne waren.“ [Rm 5,8] Mit seinem Tod am Kreuz hat die Liebe Gottes kein Ende. Sie triumphiert über den Tod am Morgen des dritten Tages, als Christus aufersteht. Darauf sehen wir. Auf ihn hoffen und vertrauen wir. Er ist das fleischgewordene „Aber“, der Einspruch Gottes gegen Leid und Schmerz, Elend und Tod. Verbunden mit ihm durch die Taufe, Einig, ja, eins mit ihm durch den Heiligen Geist sind wir eine neue Kreatur, von Gott zum Leben berufen dem Tod zum Trotz.
Vielleicht tritt dann eines Tages jemand im Nachtdunkel vor die Tür, vielleicht mit einem Kind an der Seite, das fragt: „Wo ist die Oma jetzt?“ und weist zum Himmel hinauf, „Schau da, da ist sie jetzt!“ Schweigend werden die beiden hinaufsehen und sehen, was Daniel ankündigt:
„Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“ [Dan 12,3]
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.