2. Sonntag nach Trinitatis
Text: Jona 3,1–10
Thema: Gott hat Mitleid
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

„Was ist ein Prophet?“ „Wer weiß es?“ Schülerin X antwortet: „Äh, ein Prophet ist ein, keine Ahnung, ist einer, der die Zukunft vorhersagt – oder so.“ Dass Propheten, die Zukunft vorhersagen, gehört für viele zur Arbeitsbeschreibung des Prophetenamtes. Dabei nehmen sie die Aufgabe wahr, das zu sagen, was von den Herrschenden verschwiegen wird. So gesehen sind sie Repräsentanten einer Gegenöffentlichkeit. Sie decken auf, was verhüllt werden soll, und legen offen, was verdrängt wird und sagen, was öffentlich beschwiegen wird. Die Geschichte von Jona ist uns allen bekannt, soweit es sich um Fisch und Rizinus handelt. Den Fisch hat Jona hinter sich.

Jona 3,1 Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: 2 Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!

Fortlaufen hilft nicht. Hier gibt’s keine Flucht in die Unbelangbarkeit. Wat mut, dat mut. Ausgerechnet Ninive! Die Stadt ist für damalige Verhältnisse mit angenommenen 120.000 Einwohnern wirklich groß. Aber was heißt schon „damalige Verhältnisse“? Als das Buch Jona geschrieben wird, liegt die Hauptstadt des assyrischen Reiches schon ungefähr 150 Jahre in Schutt und Asche. Sei’s drum. Wir stellen uns neben Jona.

3 Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß.

Landei trifft auf Metropole oder, wie kritische Stimmen sagen, einen Ort der Verderbtheit. Nahum, ein anderer Prophet bezeichnet Ninive als „Hure“ [vgl. Nah 3] und ruft aus: „Weh der mörderischen Stadt, die voll Lügen und Räuberei ist und von ihrem Rauben nicht lassen will!“ [Nah 3,1] Wir wundern uns nicht, dass Jona zuerst versucht hatte, dem Auftrag Gottes zu entkommen. Aber jetzt ist er da.

4 Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen.

Vierzig Tage! Etwas mehr als ein Monat, aber auch der Zeitraum, den wir aus anderen Zusammenhängen kennen. Vierzig Tage währt die Sintflut. Vierzig Tage hält sich Mose allein auf dem Sinai auf. Vierzig Tage fastet Jesus in der Wüste. Die Vierzig gilt als die Symbolzahl der Prüfung, der Bewährung, der des Eintritts in eine neue Phase – sei es Tod oder Leben. Dauert nicht eine Schwangerschaft für gewöhnlich vierzig Wochen?

Die Ansage des Propheten ist klar und deutlich. Sie lässt keinen Spielraum für Verhandlungen um Fristen und macht keinerlei Angaben zur Erklärung. Es ist so. Punkt. Liegt es daran oder wie kann geschehen, was nun passiert?

5 Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.

Welch Sinneswandel! Wer von denen, die in den 30er Jahren hellsichtig vor der aufkommenden Partei warnte, kann sich solchen Erfolgs rühmen? Und wer von denen, die lang und oft auch laut vor allzu großer Abhängigkeit vom Gutdünken des Gewaltherrschers warnten, erfuhr solche Reaktion? Und als der Club of Rome Anfang der 70er Jahre vor den Folgen ungebremsten Ressourcenverbrauchs warnte, wer wollte das wissen? Nein, was hier geschildert wird, das entspricht so gar nicht unseren Erfahrungen. Toppt das nicht die wundersame Rettung aus den Tiefen des Meeres, aus dem Bauch des Fisches? Der Prophet spricht, die Leute hören auf ihn und machen ihren Sinneswandel offensichtlich. Wir sehen eine Art Bürgerbewegung. Kein Mensch wartet noch auf die üblichen Verantwortlichen und Anführer. Auch einer Erklärung bedarf es nicht. Sie wissen um ihren Lebenswandel. Sie kennen die Fehler. Sie kennen ihre Verfehlung. Nur den Ruf „noch vierzig Tage“! [Jona 3,4], den braucht’s. Aber dann! Alle handeln und tun, was zu tun ist.

Obwohl Jona nur eine Tagereise in die Stadt hineingegangen ist, deren Durchmesser mit drei Tagereisen angegeben ist, obwohl er also erst am Rand der Innenstadt angelangt ist, erreicht seine Botschaft auch das Stadtzentrum.

6 Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche 7 und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen:

Der König tut es den Bürgern nach und, heute würden wir das politische Geschick bewundern, setzt sich an die Spitze der Bewegung. Ob er deshalb das Heft des Handelns wieder in der Hand hat? Hören wir, was er den Leuten in Ninive zu sagen hat:

7 Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; 8 und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände!

Ist dem König eigentlich klar, dass es seines Erlasses nicht bedarf. Auch ohnedies wissen die Leute, was zu tun ist. Und warum? „Die Leute von Ninive [glaubten] an Gott“ [Jona 3,5]. Daran machen sie ihren Sinneswandel fest. An nichts anderem. Kein Befehl, kein Erlass, kein Gerücht oder sonst was: Sie glauben. Es ist wie ein Wunder. Ja, selbst der König, der Repräsentant des verderbten Ninives, „der Fisch stinkt vom Kopf“, ja selbst der kriegt die Kurve. Er kehrt sogar vor der eigenen Haustür: „Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände!“ [Jona 3, 8]

Freilich ohne Hintergedanken geht’s nicht. Dazu ist er ein zu großes Schlitzohr. Er überlegt laut:

9 Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben.

Darf man hoffen, wo es sich ausgehofft hat: „Noch vierzig Tage!“ [Jona 3,4] Kann man mit Gottes Sinneswandel rechnen? Wird seine Barmherzigkeit dazu führen, dass er seiner eigenen Ankündigung widerspricht? Und wird das seine Glaubwürdigkeit nicht beschädigen? Wir hören die Hardliner – und die gibt’s immer, auch wenn sie hier bei Jona keine Stimme haben – Konsequenz fordern. „Nur jetzt nicht nachgeben!“ „Man muss ein Exempel statuieren!“ „Wo kommen wir denn da hin?“ Gerechtigkeit und Erbarmen sind im Konflikt.

10 Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

Den Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Erbarmen entscheidet Gott zugunsten des Erbarmens. 120.000 Menschen leben weiter, von Grund auf verändert, umgestülpt in ihrer Umkehr. Daneben sehen wir einen Propheten, dessen Wahrheitsanspruch beschädigt wurde. Es ist anders gekommen, als er angekündigt hatte. Offenbar hat er Gottes Willen dann doch nicht verkündet. Oder?

Noch 150 Jahre lebt Ninive weiter. Dann geht es im Ansturm des babylonischen Heeres unter. Hat der Glaube nicht gehalten? Ist der alte Sinn wieder durchgekommen mit Lügen und Räuberei, dass es zum Himmel stinkt? Hätten die Niniviten einen Jona nicht nur einmal sondern immer wieder gebraucht? Bräuchten wir Niniviten einen, der mit der Vollmacht des Jona ruft: „noch vierzig Tage!“ [Jona 3,4]? Einen, der uns zum Glauben bringt und damit Gott zum Erbarmen?

Ich zitiere noch einen Propheten, einen der alten Propheten aus der Zeit des Jesaja – Micha. Ihn hören wir sagen:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. [Mi 6,8]

Jetzt sehen wir Jesus, der all das einholt, verwirklicht und uns zugänglich macht. So geht’s. So wie er es verwirklicht.

„Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ [Ps 118,26]

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.