19. Sonntag nach Trinitatis
Text: Mk 2,1–12
Thema: Acht Füße und ein Halleluja
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Der Journalist Udo Reiter, ein ausgesprochen innovativer Kopf und später nach der Wende einer der Mitbegründer des Mitteldeutschen Rundfunks schrieb Anfang Oktober:
„Nach fast 50 Jahren im Rollstuhl haben meine körperlichen Kräfte in den letzten Monaten so rapide abgenommen, dass ich demnächst mit dem völligen Verlust meiner bisherigen Selbstständigkeit rechnen muss. Parallel dazu beobachte ich auch ein Nachlassen meiner geistigen Fähigkeiten, das wohl kürzer oder später in einer Demenz enden wird“.
Es war sein Abschiedsbrief. Udo Reiter hatte sich am 10. Oktober 2014 das Leben genommen. Seit einem Autounfall 1966 war er querschnittsgelähmt gewesen und auf den Rollstuhl angewiesen. Ein schweres Schicksal. Jeder, der schon einmal, sei es für Momente, Tage oder Wochen, nicht in der Lage war, auf eigenen Beinen zu stehen, hat eine Ahnung – nur eine Ahnung – davon bekommen. Was aber, wenn dazu noch weitere Gebrechen kommen, die die eigenen Möglichkeiten einschränken? Was aber, wenn die Hilflosigkeit alles andere überlagert?
Und da haben wir in der Schriftlesung von einem Gelähmten gehört. Eine Geschichte wie ein Kontrastprogramm. Eine, die Hoffnung macht, ja, die von Hoffnung getragen ist. Von vieren getragen kommt der Gelähmte da hin, wo Jesus in Kapernaum eingekehrt ist. Kapernaum – Kafar nahum – „Dorf des Trösters“ Vermutlich im Haus des Petrus ist Jesus jetzt zu finden. Nicht nur für die Leute in Kapernaum, sondern auch für andere am See Genezareth ist Jesus eine Größe. Wenn er kommt, kommen viele, die ihm begegnen, die ihn sprechen hören wollen. Schnell ist also das Haus voller Menschen. So viele sind da, dass beim besten Willen niemand mehr durch die Tür passt, „…auch nicht draußen vor der Tür“ [Mk 2,2] lässt sich Platz finden.
So viele Menschen! Was hat sie alle auf die Beine gebracht? Markus deutet es kurz an: Dass „er… ihnen das Wort“ [ebd.] sagte.
Die Vier, die den Mann tragen, müssten eigentlich umkehren. „Hör mal, da sind so viele Leute, dass selbst vor dem Haus kein Platz mehr ist. Lass uns umkehren. Das bringt doch nichts.“ Nichts da! Davon lassen sie sich nicht abhalten. Irgendwie bugsieren sie Mensch und Bett, vielleicht war es auch eine Trage, auf’s Dach hinauf. Woher nehmen sie die Energie? Woher den Antrieb? Ist das der Glaube, der Berge versetzt?
Ich denke an die Angehörigen und betreuenden Personen eines Menschen, der weitgehend auf Hilfe angewiesen ist. Meine Oma, die, selbst betagt, ihren halbseitig gelähmten Mann, über zwei Jahre lang bis zum Umfallen betreut und gepflegt hat. Und Schwester Hulda, die in ihrer Diakonissentracht, die weiße Haube auf dem Kopf, weit in den Siebzigern, zuverlässig mit ihrem grünen Mofa aufkreuzte, um beim Waschen und Betten zu helfen. Viele tun solchen oft unermesslichen Dienst und legen dabei eine Kraft und eine Ausdauer an den Tag, die uns staunen macht. So auch die Vier.
Ihre Füße machen der Hoffnung Beine. Acht Füße und acht Hände und vier Köpfe gegen die Resignation. Vier Mitmenschen, die einen der ihren nicht aufgeben, sondern sich mit Hingabe für ihn einsetzen. Es sind keine Profis, an die man die schwierigen Aufgaben delegiert hätte. Es sind Leute wie Du und ich.
Und jetzt sind sie auf dem Dach, „da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge“ [Mk 2,4]. „Sie gruben es auf“ [ebd.], erfahren wir, und stellen uns eines der typischen Flachdächer in dieser Gegend vor. Gott sei Dank bricht es nicht ein! Und schließlich „ließen [sie] das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.“ [ebd.]
In dieser Geschichte und wohl auch in unserem Leben machen die Vier den Unterschied. Die Vier, die sich einsetzen, die hoffen und glauben – ja, und sehr praktisch lieben, die den Gelähmten eben nicht links liegenlassen, sondern da hinbringen, wo es Hilfe gibt. Ob sie sich schon zuvor sicher sind, dass Jesus helfen wird?
Eine gewisse Unsicherheit wird sie begleitet haben. Die spüren wir auch, wenn wir vor die Frage gestellt sind, ob wir uns auf Gott verlassen können und wollen. Jetzt sehe ich die vier oben stehen. In ihren Händen die Seile, an denen das Bett hängt. Langsam lassen sie es hinab. Mit schweißnassen Gesichtern, konzentriertem Blick und keuchend vor Anstrengung. Und ich stelle mir vor, wie die unten gewahr werden, dass ihnen jemand auf’s Dach gestiegen ist. Wie‘s bröckelt und rieselt auf die unten, als die oben das Dach öffnen. Davon kein Wort. Und wie verhalten sich all die, die einen guten Platz ergattert hatten? Da setzt sich nicht etwa nur ein Sitzriese vor sie, nein, da kommt gleich ein Bett von oben und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Auch davon kein Wort. Die Erzählung konzentriert sich jetzt auf Jesus. Wie wird er reagieren?
Offenbar sieht auch Jesus die Vier oben auf dem Dach und erfasst, was ihr Handeln bedeutet. Markus erzählt: „Da nun Jesus ihren Glauben sah“ [Mk 2,5]. Er sieht ihren Glauben. Das ist der Schlüssel für das, was folgt. Er sieht ihren Glauben und spricht zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ [ebd.] Wir fragen uns, was hat das eine, der Glaube der vier, mit dem anderen, dem Gelähmten, zu tun? Denn ihm werden seine Sünden vergeben. Dessen offenbar, so legt es die Erzählung nahe, gestörtes Verhältnis zu Gott, wird durch das Handeln und vor allem den Glauben der Vier geheilt.
Kann das sein – stellvertretender Glaube? Nicht, wenn ich allein bin und bleibe, aber in der Gemeinschaft aber schon. Da kommt es vor, dass der Glaube der einen, Zweifel und Zagen des anderen, tragen, ja, überwinden helfen. Den Wert der tragenden Gemeinschaft, in unserer Geschichte darf man das sogar wörtlich nehmen, kann man nicht hoch genug schätzen! Der Gelähmte, über den wir in der ganzen Geschichte kaum etwas erfahren, wird sich dessen bewusst geworden sein. Erst recht, als Jesus in Auseinandersetzung mit den Pharisäern, abschließend zu ihm spricht: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! [Mk 2,11]
Wer will sich gegen den wunderbaren Ausgang dieser Geschichte wenden? Vielleicht Leute, die denken: „Darf der das?“ Darf dieser Rabbi Jesus Sünden vergeben? Ist das nicht anmaßend? „Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ [Mk 2,7]
Wie so oft in Glaubensdingen und seinen Ausdrucksformen ist das eine Frage der Vollmacht.
Ich erinnere einen Ökumenischen Gottesdienst in Lucca, in dem ich die Predigt halten und am Schluss zusammen mit dem Erzbischof den Segen geben durfte. Mein Freund Piero, damals Sekretär des Bischofs, wies mich eindringlich darauf hin, dass der Bischof das Kreuz dreimal schlagen werde, ich es aber bitte unbedingt bei einem Mal zu belassen hätte. Auch in vermeintlichen Kleinigkeiten nimmt die Vollmacht Gestalt an.
Jesus jedenfalls weist die Kritik zurück. Es leichter dem Gelähmten zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘, als Steh auf, nimm dein Bett und geh hin‘. Genau das sagt er zu dem sicher verdutzten Gelähmten. Und siehe da, „er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen“ [Mk 2,12].
Auch wenn der Fokus der Erzählung im zweiten Teil auf Jesus und seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern liegt, bleibt mir das Handeln der Vier im Sinn. Ein rechtes Gotteslob! Sozusagen: Acht Füße und ein Halleluja!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.