Misericordias Domini
Text: 1. Petr 5,1–4
Thema: Weidet die Herde Gottes!
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Mit dem Ausgang des 1. Jahrhunderts nach Christus kommen die ersten Glasspiegel in Gebrauch: hinter einer Glasplatte wird dünn ausgewalzte Zinnfolie als reflektierende Fläche angebracht. Das ist im Grundsatz der Spiegel, den wir bis heute kennen.

Wer in ihn hineinschaut, der schaut auch aus ihm heraus. Losgelöst vom kosmetischen Interesse hält der 1. Petrusbrief der Gemeinde einen Spiegel vor. Die Gemeinde steht für die Gemeinden im Kleinasien des 1. Jahrhunderts nach Christus. Ist es Zufall, dass in diesem Brief das Wort für „leiden“ so häufig vorkommt, von ganzen 42 Belegen im Neuen Testament finden sich allein 12 hier. „Leiden“ schaut aus dem Spiegel heraus, der der Gemeinde vorgehalten wird. Leiden spricht wohl auch aus den Gesichtern der Gemeinde. Arg trifft das die Sklaven der Zeit. Sie werden geschlagen, ausgenutzt, gedemütigt, behandelt – bestenfalls – wie Menschen zweiter Klasse.

Von da fliegen die Gedanken ganz schnell zu den Raststätten der Republik – nicht nur in Gräfenhausen, wo Abend für Abend, Wochenende für Wochenende unzählige Fahrer mit ihren LKWs stranden und ausharren, bevor sie wieder „just in time“ für uns Kilometer machen.

Aber auch alle anderen in den kleinen christlichen Gemeinden haben oft nichts zu lachen, wenn der Spott der Mehrheitsgesellschaft sich über sie ergießt. Wenn sie als Außenseiter angesehen und behandelt werden – Spinner halt. Wenn sich die Wut der anderen ein Ventil sucht und sie dafür herhalten müssen.

Muss es da nicht verlockend sein, der Gemeinde den Rücken zu kehren? Es so zu machen, wie es alle anderen tun? Warum nicht den leichten Weg gehen? Wozu für seine Überzeugung einstehen und einstecken? Wieso gegen den Strom schwimmen und einander dienen, miteinander beten und „untereinander beharrliche Liebe“ [1. Petr 4,8] haben?

Erlebtes und drohendes Unheil dürften die Motivation gegeben haben, diesen Brief zu schreiben. Er kommt aus Babylon. Wir dürfen sicher sein, dass damit Rom gemeint ist, damals eine Millionenstadt, bevölkert mit Menschen aller Herren Länder. Im 5. Kapitel heißt es in den Versen 1-4:

5 1Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: 2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, 3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. 4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.

Wer ist „ich“? Wer ermahnt wen? Es ist der „Sympresbyteros“, der Mitälteste, also im Grunde einer, wie die anderen auch. Autorität hat er wohl vor allem, weil er etwas zu sagen hat und in der Lage ist, anderen Orientierung zu geben. Meine Güte, wenn das doch Kriterium für alles Leitungshandeln wäre! Andersherum: Das muss das Kriterium für Leitungshandeln sein. Denn ein Haupt hat die Gemeinde schon, einen Herrn hat die Kirche längst. Es ist der „Oberhirte“. Es ist der in der frühen Kirche gerne so dargestellte „Gute Hirte“, Jesus Christus.

Wer immer ein Hirtenamt bekleidet, hat ihn zum Vorbild. Drum ist es nur konsequent und in dieser Konsequenz immerhin vorbildlich, dass der langjährige Vorsitzende der Deutschen katholischen Bischofskonferenz und ehemalige Erzbischof von Freiburg in der vergangenen Woche seine Ehrungen und Orden zurückgegeben hat, nachdem ihm die Vertuschung von Missbrauchsfällen nachgewiesen worden war. Aber halt! Es ist nicht damit getan, nur auf andere zu zeigen. Drei Finger zeigen dabei immer auf einen selbst.

Auch die Presbyteroi, die die Gemeinde leiten, sind nur Menschen. Sie sind fehlbar. Dürften nur Unfehlbare leiten und führen, gäbe es keine Leitung und keine Führung. Und übrigens der „Teilhabe an der Herrlichkeit“ [1. Petr. 5,1] geht aller äußerer Glanz ab. Zu ihr kommt, wer Christus folgt im Leben und Leiden und im Sterben. Narzissten und Ruhmsüchtige wird man hier vergebens suchen.

Nun gut, ist das nicht alles Schnee von gestern? Wir leben nicht im ersten Jahrhundert nach Christus, auch nicht in Kleinasien und auch nicht im Römischen Reich. Kleinasien war übrigens einmal eine blühende Landschaft voller lebendiger christlicher Gemeinden. Davon zeugen heute nur noch wenige, oft kümmerliche Überreste, aus denen das meiste Leben gewichen ist. Oft ist von der einstigen Gemeinde nur noch die Kirche übrig, manchmal auch die nur wie ein einzig verbliebener kariöse Zahnstumpf.

Wer weiß, wie es hierzulande in einigen Jahrzehnten aussehen wird? Was wird leben von aller noch selbstverständlich erscheinenden gemeindlichen Lebendigkeit? Wer wird sich noch zur Gemeinde zählen? Wird es am Ende auch die Erfahrung von Leid geben? Vielleicht keine Verfolgung nur der weitgehende Bedeutungsverlust in der Gesellschaft? Und zudem von allen Seiten herandrängende Beschwer, wie wir sie in diesen Monaten empfunden haben, als Krieg und Klimakrise die Welt in die Zange nahmen und wir erkennen mussten: So wie es war, geht es nicht weiter. Das betrifft nicht nur die Wirtschaft und den bislang stetig wachsenden Wohlstand vieler. Auch das Zusammenleben in einer Gesellschaft, in der Interessen, Grundüberzeugungen, politische Einstellungen und vor allem die Lebensmöglichkeiten immer weiter auseinanderdriften, entwickelt sich zur Herausforderung. Was wird das Land und die Menschen zusammenhalten? Eine beliebte Antwort lautet: Das Grundgesetz. Dessen außerordentliche Bedeutung sei nicht in Frage gestellt. Auch die Bibel als Text bleibt von herausragender Bedeutung. Aber beide sind stumm. Beide haben keine Augen und Ohren, kein Hirn und kein Herz, keine Hände und keine Füße. Aber die braucht’s, damit die Texte zum Leben kommen.

Und eine Gemeinde braucht Menschen, die sich um sie sorgen und für sie sorgen. Gäbe es nichts zu hüten, zu bewahren und zu erschließen, Hirtinnen und Hirten würden nicht gebraucht. Die aber werden gerade jetzt gebraucht, denn jetzt ist die Zeit, in der die Hirtinnen und Hirten gefordert sind. Dazu gehört es genau hinzuhören, was Gott will, und genau hinzusehen, was die Gemeinde braucht. Schließlich lautet der Auftrag: „Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.“ [1. Petr 5,2f.]

Die Vorbilder gehen mit gutem Beispiel voran. Das fängt mit dem Bemühen an, das nicht müde wird. Es verlangt aber nicht die Vollkommenheit. Zu der finden ohnehin nur diejenigen, die zur Stärke auflaufen, wenn es andere zu kritisieren gilt, oder diejenigen, deren Ratschläge sich wie Schläge anfühlen: „Man könnte…“ „Man sollte…“ „Hätte man nicht…?“ Das Wunderbare schon in diesem frühen Text: Auf Hierarchie kommt es nicht an. Wohl aber auf das Vorbild, Christus, und das anhaltende Bemühen ihm nachzueifern, sei es als Kirchenvorstand, sei es als Mitarbeiter, sei es als Mitglied der Gemeinde oder Geistliche. Wer diesem Vorbild folgt und handelt „von Herzensgrund“ – heute würden wir sagen mit intrinsischer Motivation – ist auf einem guten Weg.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.