Ewigkeitssonntag – 20.11.2022
Text: Joh 5,24-29
Thema: Leben als Beziehungsfrage
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Tag ist gekommen, vor dem sie große Angst hatte. Sie hatte vom „endgültigen Abschied“ gesprochen. Nun sitzt sie und schaut nach vorn auf die Urne. Ein Gefühl der Leere und ein Gefühl des Schmerzes wechseln sich ab. Unüberwindlich scheint die Entfernung, die zwischen dem Lebenden und dem Toten liegt. Erst recht jetzt, da nur noch die Urne an den erinnert, der vor kurzem noch da war. „Das war’s jetzt“, denkt sie und könnte womöglich nicht einmal unterscheiden, ob sie damit das vergangene gemeinsame Leben meint oder auch für ihre Zukunft keine Aussicht sieht.

Später steht sie am Grab, sieht wie die Urne abgesenkt wird. „Da geht er hin“. Fast mechanisch tut sie, was man dann tut. Die Erde zu werfen, kostet sie Überwindung. Der Pfarrer hatte gesagt, damit bekräftigten wir die biblische Sicht, die da sagt: „Von Erde bist du genommen, zu Erde wirst du wieder werden“ [vgl. 1. Mose 3,19]. Ja, das verbindet uns, über den Tod hinaus. Trotzdem fällt es ihr leichter, die Finger in das weiche Bunt der Blütenblätter zu senken und ihm eine Handvoll davon ins Grab zu streuen. Aber, was fällt einem schon leicht in dieser Situation?

Manche, die sie auf diesem schweren Weg begleiten, empfinden ähnlich wie sie. In gewisser Weise tragen sie die Trauer mit, nehmen etwas davon auf ihre Schultern. Und wenn sie dann am Grab stehen, bei der Bestattung eines Sarges mag das noch deutlicher zu spüren sein, sehen sie hinunter in die Grube. Ich selbst denke jedes Mal, „da musst du auch einmal hin.“ Das rührt einen an, geht tief, kann erschüttern, stellt das alltägliche Leichtlebige in Frage.

„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras / Und alle Herrlichkeit des Menschen / Wie des Grases Blumen / Das Gras ist verdorret / Und die Blume abgefallen.“ Ich habe Brahms im Ohr – Ein deutsches Requiem“ – und den Bibeltext [1. Petr 1,24].

Zögernd wendet sie sich vom Grab ab. Wohin soll sie gehen? Und wozu? Wer wird auf sie warten, wird, wenn sie die Haustür aufgeschlossen hat, rufen: „Bist du’s, Schatz?“
Die ersten kommen, legen die Arme um sie, drücken die Hand, sprechen ihr leise zu, streicheln sie mit Blicken. Kann sie das auffassen? Sie spürt es, dass die andern da sind. Dass sie sich um sie scharen. Sie spürt auch, dass auf andere Weise zwar, die andern auch betroffen sind, ihre Erfahrungen und Erinnerungen mitgebracht haben, und auch ihre Sorgen und Ängste. „Wie wird das einmal mit mir werden?“

Manche sagen, und wollen dabei gänzlich unsentimental erscheinen, „dann ist es eben aus – aus und vorbei“, um sich dann ins Leben zu stürzen, gierig, möglichst viel davon abzukriegen, als tanzten sie den letzten Tanz auf der untergehenden Titanic.

Andere kramen einen vielleicht längst verschütteten Satz hervor. Mit „ich glaube“ beginnt er und endet mit den Worten an die „Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Wir haben das eben auch so gesagt, vielleicht ein wenig mechanisch oder aber auch an einem Tag wie diesem mit besonderer Aufmerksamkeit. „Ich glaube“ – das meint mehr als das oft dahinterstehende „ich vermute“, es könnte so sein, ganz genau weiß man’s ja nicht. „Ich glaube“, das meint, ich vertraue darauf ganz und gar, so dass ich mich in meinen Glauben fallen lassen kann.

Leben und Glauben sind an Beziehungen gebunden. Sie werden erlebbar an und richten sich zugleich auf ein Gegenüber. Ja, selbst untereinander sind Leben und Glauben in einer Beziehung. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Johannes spricht davon. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Auch im Text, den wir in der Lesung gehört haben: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ [Joh 5,24], spricht Jesus. Seine Gegenüber sind Leute, die an ihm zweifeln, ja, ihm nachstellen, weil sie ihn nicht für glaubwürdig halten. Ihnen macht er klar, ich spreche nicht für mich, ich spreche als der, den Gott dafür bestimmt hat.

„Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ [ebd.] Hier scheiden sich die Geister. Glaubst du oder glaubst du nicht? Vertraust du mir oder vertraust du mir nicht? Der Glaube ist Ausdruck einer Beziehung. Eine Beziehung zwischen mir und meinem Gott. Besteht die, meinetwegen wackelig und ungenügend, aber besteht sie, so hat das Folgen weit über dieses hier zu lebende Leben hinaus. Und jetzt ist es, als ließe uns die Rede Jesu in sonst verborgene und verschlossene Zimmerfluchten schauen, indem sich eine Tür nach der anderen öffnet. Wir schauen auf eine Wirklichkeit hinter dem Tod. Und was sehen wir?

Leben, das an keine Zeit gebunden also ewig ist. Und ein Gericht, das wohl schon entschieden ist, denn wer so glaubt, der „ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ [ebd.] Mehr als eine Andeutung kann es hier nicht geben. Es zählt das „Dass“.

Nimmt mir das die Trauer? Erspart mir das die anspruchsvolle Aufgabe, mich in der Trauer neu aufzustellen für das Leben hier? Nein! Was bewirken dann Hören und Glauben?

Im Glauben steckt die Kraft, die den Tod aus unserem Leben hinaustreibt. Das Vertrauen auf den, von dem alles Leben ausgeht und der es erhält, entmachtet den Tod. Wer Gott vertraut, hat also schon das ewige Leben, das Leben, das keinen Tod mehr kennt – das ewige Leben kommt dann nicht mehr, muss nicht mehr erst noch werden und entstehen, sondern es ist schon da. Einfach da.

Unversehens fallen jetzt – in diesem Glauben – die Grenzen, die uns unwiderruflich von denen trennen, um die wir trauern. Wir entdecken uns in einer Gemeinschaft der Gläubigen, die Lebende und Tote umfasst. Im Glauben gehören wir zusammen. Immer und auch jetzt noch, da uns die Trennung schmerzt. Im Glauben vertrauen wir darauf, dass Gott unsere Entschlafenen zum Leben ruft so wie uns auch und das Leben neu wird, so stark und unwiderstehlich, dass es den Tod in den Schatten stellt.

Ob sie das verstehen und für sich gelten lassen kann, wenn sie dann vom Grab weggeht nach Hause, das nicht mehr dasselbe ist? Ob solche Gedanken und Worte an sie herankommen kommen?

Am ehesten, wenn sie immer wieder bezeugt, immer wieder ausgesprochen werden. Am ehesten in der Gemeinschaft der Gläubigen, wo es die Aufgabe der jetzt Gewissen ist, ihre Gewissheit mit den anderen zur Stärkung zu teilen. Dabei werden sie wissen, es kommt der Tag, da sie selbst solcher Stärkung bedürfen.

Leben und Glauben sind an Beziehungen gebunden. Es gilt, sie zu pflegen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.