11. Sonntag nach Trinitatis
Text: Lk 7,36–50
Thema: Dein Glaube hat dir geholfen
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Ich möchte Ihnen eine Frau vorstellen. Einen Namen weiß ich nicht. Ihr Kommen ist von Tuscheln, abschätzigen Blicken und öffentlicher Ablehnung begleitet. Sie sei stadtbekannt, heißt es. Ob das etwas Gutes verheißt? Nein, sie wird als „Sünderin“ bezeichnet. Einige denken, dass es sich bei ihr um eine Prostituierte gehandelt habe. Aber der Text lässt das offen. Er lässt uns mit Jesus ohne viel Umstände ins Haus des Pharisäers Simon eintreten. „Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.“ [Lk 7,36] Was treibt den Pharisäer, Simon heißt er, wie wir noch hören werden, Jesus einzuladen? Uns bleibt keine Zeit, darüber zu spekulieren, denn kaum sitzt die Gesellschaft zu Tisch geht die Tür auf. „Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl.“ [Lk 7,37] Die Blicke der Anwesenden begegnen sich und fragen: „Was will die denn hier?“ „Frauen haben hier nichts zu suchen!“ „Und so eine schon gar nicht!“ „Die ist hier fehl am Platz.“ „Mit der will kein rechtschaffender Mensch etwas zu tun haben.“ „Ein Pharisäer schon gar nicht.“ „Und was hat sie vor?“ „Was macht die da?“ Sie „trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.“ [Lk 7,38]
Auf einmal ist es still. Man meint nur die Schnappatmung der Männer zu hören. „Geht’s noch?“ „Das ist ja widerlich.“ „Wie die sich ranmacht!“ „Von hinten!“ „An die Füße!“ „Heult sie ihm nass und trocknet sie mit ihren Haaren.“ „So eine Anmache!“ „Und salbt sie dann auch noch mit dem teuren Öl!“ Einige denken vermutlich: „Die versteht ihr Geschäft!“ Das ist das eine. Das andere ist Jesu Reaktion. Was heißt hier Reaktion? „Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.“ [Lk 7,39]
Mit so einer gibt man sich nicht ab. Da muss man Kurs halten, wissen und zeigen, wohin man gehört. So einer gibt man nicht die Hand. Bringt nicht ein fauler Apfel eine ganze Steige zum Verderben?
Neulich las ich vom Verfassungskonvent, der im August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee stattfand: Juristen, Verfassungsrechtler, saßen da beieinander. Man höre und staune: Im Konvent saßen „stadtbekannte“ NS-Juristen neben solchen, die vom NS-Regime verfolgt worden waren. Sie erarbeiteten gemeinsam wesentliche Grundlagen für das Grundgesetz der Bundesrepublik.
Wie wird Jesus sich jetzt verhalten? Bislang hat er offenbar mit keiner Wimper gezuckt und diese doch eigenartige Handlungsweise der Frau geduldet. Fehlt ihm der moralische Kompass, der in diesem Fall auch der religiöse wäre?
Was folgt ist ein Gespräch, ein Lehrgespräch, könnten wir es nennen. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! [Lk 7,40] Hinterher sind wir klüger – Simon, der Pharisäer auch. Es beginnt mit einem Gleichnis:
„Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben?“ [Lk 7,41f.]
Das liegt ja wohl auf der Hand! „Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.“ [Lk 7,43] Die beiden sind sich einig. Das Gesagte ist plausibel. Wird es die Anwendung auch sein? Die Frage kennen wir und das damit aufgerufene Problem auch. Hatten wir im Gottesdienst tiefste Zustimmung empfunden, als es hieß, „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ [Mk 12,31 parr.], fühlt sich das mit einem Mal ganz anders an, wenn mein Gegenüber politische Positionen von vorgestern posaunt oder der nerven-de Nachbar oder der klebende Klimaschützer vor mir stehen. Für Simon kommt es noch dicker. Denn Jesus führt ihn vor, was heißt ihn? Er führt den Hochmut vor, der bekanntlich vor dem Fall kommt. Hatte sich Simon im Vergleich mit der Frau, die eine Sünderin war, als etwas Besseres gefühlt? Nun aber – Jesus „wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.“ [Lk 7,44-46]
Da hat er recht, wird sich Simon eingestehen müssen. Ich habe versäumt ihm die Füße zu waschen, wie es sich gehört für einen guten Gastgeber. Und auch die anderen Zeichen der Freundlichkeit und gastgeberischen Großzügigkeit sind mir nicht in den Sinn gekommen. Das sind auch Regeln. Der Richtigtuer hat selbst auch Fehler gemacht. Und selbst „korrekt“ ist nicht immer richtig und schon gar nicht genug. Und Jesus schaut ihn an: „Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.“ [Lk 7,47f.]
Jetzt hat sich die Ausgangssituation verkehrt. Der Gerechte sieht sich konfrontiert mit eigenem Ungenügen. Und die Beschuldigte erfährt Vergebung. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und sich Jesus anvertraut. Sie hatte nicht nur neugierig oder gar misstrauisch nachgeforscht, wer dieser Jesus ist, sondern gewagt und – gewonnen. Hier formuliert die Geschichte sowohl ein Angebot als auch eine Anfrage. Das Angebot ist grandios. Gott belohnt den Glauben mit einem neuen Leben.
Die Anfrage lautet: Wo stehst Du? Bist Du auch bei den Zweiflern? Oder bei denen, die meinen, sie genügten? Vielleicht sind die uns näher als uns das lieb sein kann? „Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei selbst sich: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?“ [Lk 7,49]
Aber diese Frage wird nicht nach einer Ordnung entschieden, einer Prozessordnung, auf die man sich nach formalen Kriterien berufen könnte, nein, diese Frage entscheidet sich in der Begegnung. Da passiert es. Da werden die Grenzen, die auch Fesseln sind, gesprengt und die tödliche Festlegung auf Versagen, Verfehlen, Leben verleben, sie endet. „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ [Lk 7,50]
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.