1. Sonntag nach Trinitatis

Text: Lk 16,19–31
Thema: Versteht’s doch endlich!
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Als die Pariser 1789 massenweise auf die Straße gingen, hatte das einen traurigen Grund: Die Preise für das Brot waren in schwindelerregende Höhe gestiegen. Das Grundnahrungsmittel war für die Ärmsten unerschwinglich geworden. Derweil lebte man bei Hofe in Saus und Braus. Marie Antoinette, obwohl das fünfzehnte Kind (!) ihrer Eltern (Franz I. von Lothringen und Maria Theresias von Österreich), hatte von Kindheit an in wirtschaftlich komfortablen Verhältnissen gelebt. Selbst die Finanzkrise, die Frankreich Ende der 1780er Jahre beutelte, war bei ihr selbst nicht angekommen. Im Gegenteil: Sie war zum Sinnbild verschwenderischen Lebens geworden. „Madame Defizit“ nannten die Pariser die erste Dame des Staates. Als den Parisern das Brot ausging und sie deshalb protestierten, soll sie gesagt haben: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ So fraglich es ist, dass sie selbst so gesprochen hat, so treffend nimmt der Ausspruch die Kluft zwischen Hof und Volk auf’s Korn. Man versteht einander nicht. Man kann sich in die Lage des anderen nicht hineinversetzen.

Wenn das Viertelpfund Butter, und das ist nur ein Beispiel für den allgemeinen Preisanstieg, jetzt über drei Euro kostet, ziehen die einen die Augenbrauen hoch und zücken ihren Fünf-Euro-Schein, die anderen haben das Geld nicht und müssen sehen, wo sie bleiben. Haben die einen jetzt ein wirkliches Verständnis für die Nöte der anderen? Die Vorstellung von deren Situation, ja, von ihnen selbst bleibt auch bei uns jetzt merkwürdig blass. Die pauschale Rede von den Reichen und den Armen verändert das nicht. Bei Lukas begegnen uns die beiden als Prototypen: Der Arme und der Reiche. Im 19. Kapitel lesen wir:

Lk 16,19 „Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.“ [Lk 16,19] Damit ist alles gesagt. Die äußeren Attribute „Purpur und kostbares Leinen“ bebildern die Vorstellung. Der Mann muss sich keine Sorgen machen und kann „alle Tage herrlich und in Freuden“ leben. Ganz anders sein Gegenüber. Von ihm erfahren wir: „Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren 21 und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.“ [Lk 16,20 f.] Ein Gegenbild, das bei uns viele Bilder wachruft, denen freilich eines fehlt: Ein echter Hintergrund, Tiefenschärfe, wie sie sich einstellt, wenn das Phänomen ein Gesicht bekommt. Haben wir schon mal mit einem wie Lazarus gesprochen? Haben wir je seinen Alltag geteilt? Nein, es bleibt bei der oberflächlichen Betrachtung wie hier in der Geschichte. Dass die Schilderung in dieser Hinsicht so blass bleibt, ist wohl kaum Zufall. Es geht ihr nicht um das individuelle Schicksal dieses einen Reichen oder Armen. Aber worum dann?

Der nächste Vers gibt darüber Aufschluss. „Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.“ [Lk 16,22]

Zunächst, beide sterben, denn, das ist unbestritten, wir alle müssen sterben. Darin ergeht es beiden gleich, egal ob arm oder reich. „Halt!“ werden Sie vielleicht einwenden, „selbst dann noch macht es einen Unterschied, ob einer reich ist oder arm!“ Erst recht in römischer Zeit! Da konnte sich der Reiche ein Grabmal leisten, das, an einer belebten Straße errichtet, alle Passanten an ihn und sein bemerkenswertes Leben erinnerte. „Ach ja, der Krösus!“ So, das war die Vorstellung hinter dem Grab an der Straße, wird man nach dem Tod in der Erinnerung der anderen weiterleben. Den Leichnam des Armen wird man im Massengrab verschwinden lassen. Kalk drüber, fertig. Kein Mensch wird seiner noch gedenken. Damit, so die Vorstellung, ist er tot, toter geht’s nicht.

Hier aber bei Lukas trägt ausgerechnet der Reiche keinen Namen. Als ob Gott sich nicht für ihn interessierte, jedenfalls nicht mehr als für irgendeinen sonst. Hier bei Lukas sorgt eine Weichenstellung dafür, dass der eine begraben wird – Punkt, aus, basta – und der andere „von Engeln getragen in Abrahams Schoß“ gelangt. Auf dem, im Schoß sitzen, das vermittelt uns den Eindruck großer Geborgenheit. Wer da sitzen kann, der hat’s gut.

Wie gut, das verdeutlich die Erzählung am Widerpart des Lazarus. Der Reiche, der sich nie um etwas sorgen musste, der „alle Tage herrlich und in Freuden“ gelebt hatte, wird, kaum dass begraben ist, mit einer Gegenwelt konfrontiert:

„Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.“ [Lk 16,23] Wie die Dinge sich ändern! Nie hatte er auf das Wesen zu seinen Füßen geachtet. Vermutlich hatten ihm die Hunde mehr bedeutet als jene armselige Kreatur. Für die hatte er kein Auge gehabt. Jetzt aber sieht er ihn. Ja, er kennt ihn mit Namen!

„Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme.“ [Lk 16,24]

Welch‘ Wendung! Wo eben noch Sklaven den kostbaren Wein in großen Kelchen anreichten, sehnt sich der Verwöhnte danach, dass Lazarus (ausgerechnet der!) „die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge“.

Wo eben noch ein kurzes Klatschen oder Fingerschnippen die Sklaven zur eiligen Erfüllung seiner Wünsche mahnte, muss es jetzt die Bitte um Erbarmen tun. O Himmel, wenn nun Abraham genauso schwerhörig sein wird, wie er selbst es gewesen war! Wenn er, für den „Barmherzigkeit“ ein Fremdwort gewesen war, nun selbst in seinem Elend sitzenbleibt und keine Barmherzigkeit erfährt!

„Gerecht wär’s“, mag man denken. Jesus erzählt weiter: „Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. [Lk 16,25f.]

Was mag dem reichen Mann durch den Kopf gehen? Vielleicht die Einsicht: Ich habe ja auf der Erde ganz falsch gelebt! Ich habe nur an mich gedacht und den armen Lazarus übersehen. Und jetzt ist es zu spät!

Das wird ihm zur Qual: Sehen müssen, dass die Grundannahmen des vergangenen Lebens falsch gewesen sind. Den armen Lazarus übersehen zu haben, im eigenen Wohlbefinden badend, das rächt sich jetzt. Nur sich selbst zu pflegen und zu dienen, Gott zu vergessen, nicht mit seinen Augen zu sehen, nicht seinem Erbarmen zu entsprechen, das geht nicht gut aus. Nichts ist rückgängig zu machen. Was gelebt ist, ist gelebt. Die Frage ist: War das, was wir gelebt haben, gut? Können wir mit diesem Leben vor Gott bestehen?

Auf der anderen Seite: Welche Verdienste hat sich denn Lazarus erworben? Nichts haben wir darüber erfahren, genauso wenig wie beim reichen Mann. Gibt es überhaupt einen Menschen, der sich vor Gott seiner Untadeligkeit wegen rühmen könnte? Lazarus ist es nicht. Einzig sein Name gibt einen Hinweis: „Lazarus“ – die griechische Form des „Elieser“ – bedeutet „Gott hilft“. Mit anderen Worten: Unsere einzige Rettung, unsere ausschließliche Hilfe ist Gott. Was ich getan habe im Leben, und was ich versäumt habe, alles zieht mich runter, in die Hölle! In den Himmel bringt uns einzig und allein, was Gott getan hat, durch Jesus Christus. Er hilft! Er rettet!

„Versteht’s doch endlich!“ das ist der Appell in Jesu Erzählung. Alles, was ihr dazu wissen müsst, wisst ihr. Des reichen Mannes Bitte, man möge seine Brüder warnen, ihr Leben nicht zu verfehlen, damit sie nicht sein Schicksal ereile, weist Abraham zurück. Alles, was sie wissen müssen, wissen sie schon. „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“ [Lk 16,31]

Ob dieser Teil der Erzählung auf Jesus zurückgeht, wissen wir nicht. Ob er selbst auf seine Auferstehung hinweist? Möglich, aber nicht allzu wahrscheinlich.

Die Pointe seiner Erzählung liegt in der Erkenntnis, dass die Selbstrettung, die Selbsterlösung vor dem Tod versagt. Dass das Lazarus-Prinzip allein helfen kann. Und das ist das Vertrauen darauf, was jener im Namen trägt: „Gott hilft!“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.