Estomihi
Text: 1. Kor 13,1–13
Thema: Agape als treibende Kraft
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Gestern verfolge ich mal ganz, mal mit halbem Ohr die Reden und Kommentare der Münchner Sicherheitskonferenz. Das ist jedes Jahr eine spannende Veranstaltung mit Ausblicken und Aussagen größter Relevanz. In diesem Jahr gilt das in besonderer Weise. Die Konflikte in dieser Welt, allen voran der Krieg in der Ukraine und die Auseinandersetzung zwischen weiten Teilen der Bevölkerung mit den Mullahs im Iran lassen die Welt den Atem anhalten. Was wir zu sehen bekommen, ist grauenhaft. Es ist das vollkommene Gegenteil dessen, was Zivilisation und Menschenachtung fordern.
Kann man angesichts dessen von der Liebe reden, ohne in den Verdacht zu geraten, Realitäten zu leugnen oder Kitsch zu verbreiten?
1991, als der zweite Golfkrieg die Angst vor einem Weltbrand auflodern ließ, fiel die Fastnacht aus. In diesem Jahr ist das anders. Ist die Sorge geringer geworden? Haben wir uns daran gewöhnt mit ihr zu leben? Oder können wir beides – Lachen und Weinen ganz nah beieinander? Wobei dem Gelächter der Narren fast eine Notwendigkeit zuzuschreiben ist, wenn es sonst nichts zu lachen gibt.
Das gilt dann aber auch für die Rede von der Liebe. Verschwiegen wir sie, wer weiß, vielleicht geriete sie uns aus dem Blick oder gar aus der Erinnerung. Wer aus den Prügeleien großstädtischer Hinterhöfe seine Lehren zieht, könnte auf den Gedanken kommen, das einzige Mittel, mit dem man seine Ziele erreichen kann, sei die Gewalt. Und wenn erst ein ganzer Staat die Gewalt zum Mittel seiner Wahl macht – „Gewalt gegen Staaten und Völker, bei der Erziehung der Kinder, gegen Gedanken und Werke, gegen Gefühle und Wissenschaft“ [Wassili Grossman: Stalingrad, Berlin ³2022, S. 695] – bleibt dann die Liebe auf der Strecke?
Statistisch gesehen wurde in all den Jahren vor dem Krieg nicht so viel geheiratet wie gerade jetzt. Dafür mag es ganz unterschiedliche Erklärungen geben. Eine, vielleicht nicht die Vordergründigste, liegt vermutlich in der tiefen Sehnsucht der meisten Menschen nach liebevoller Zuwendung. So, wie man sie als Kind erfahren hat, wenn der Vater einen ins Bett brachte und die obligatorische Geschichte erzählte, oder man morgens von Mutter sanft geweckt wurde.
Die Ahnung ist da. Die Sehnsucht auch. Wie wird aus alledem gelebte Liebe? Etel Adnan, die Malerin und Schriftstellerin aus dem Libanon, schreibt 2011: „Die Liebe beginnt damit, dass mir eine geschwungene Nackenlinie, die Länge einer Augenbraue, der Beginn eines Lächelns auffällt. ‚Es passiert!‘ Die Gegenwart des anderen menschlichen Wesens mobilisiert die Aufmerksamkeit, die eigenen Sinne. Dieses Gefühl wächst, wird zum Wunsch, die neue Erfahrung möge sich wiederholen. […] Das Gefühl wird zur Stimme in der Nacht, die ‚ich liebe dich‘ sagt und die eigene Existenz aus den Angeln hebt.“
Das ist das Gefühl. Der Eros oder Amor, wie die Römer sagen. Dessen Pfeil trifft unversehens. Bestimmt kennt auch Paulus diesen und seine Wirkung. Wenn er von der Liebe spricht, hat er nicht das Gefühl im Sinn, sondern eine Kraft, die darüber bestimmt, wie ein Mensch handelt und lebt. Das Wort dafür ist Agape. Wer, außer dem Menschen selbst, kann bestimmen, wie dieser lebt und handelt?
Es ist Gott, sagt Paulus, es ist Gott, so wie er sich uns in Jesus Christus zeigt. Später wird Johannes sagen: „Gott ist die Liebe“ [1. Joh 4,16b] – und auch Johannes verwendet hier das Wort Agape. Gott und Agape, Agape und Gott gehören zusammen. Gott ist die Quelle der Agape, ihr unerschöpflicher Ausgangspunkt. Von ihr berührt, ändert sich alles. Auch die Agape vermag die eigene Existenz aus den Angeln zu heben. So wenig, wie Eros oder Amor gehört die Agape zu den harmlosen Erscheinungen des Lebens. Denn sie ändert alles, vor allen Dingen einen selbst. Denjenigen, den sie erfüllt oder auch nur flüchtig küsst. Davon weiß Paulus ein Lied zu singen. Wir nennen es das Hohelied der Liebe, das ganz besonders gerne aus Anlass einer Trauung angestimmt wird. Dort treffen sich dann Wünsche und Wunschdenken auf’s Trefflichste. Nüchterne Realisten sind geneigt, die Zeilen aus dem 13. Kapitel des Ersten Briefes an die Korinther für reine Romantik zu halten. Ich lese die Verse 1-13:
1. Kor 13,1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. 4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, 6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; 7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. 8 Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. 9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 13 Nun aber bleiben
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Für uns reflektiert Paulus sich selbst. All das, was er anspricht, wird ein guter Christ auf die eine oder andere Weise tun. Reden zum Beispiel „mit Menschen- und Engelszungen“, Ansagen machen, aus denen Gott spricht (vulgo: Prophetisch reden), freigiebig sein in vollendeter Großzügigkeit. Ohne die Agape wäre das alles nichts, behauptet Paulus. Es wäre so hinfällig und vergänglich, wie alles, was wir zu tun in der Lage sind. Erst, wenn hinzukommt, was von Gott kommt, wenn Gott selbst mit im Spiel ist, wird aus nichts alles. Creatio ex nihilo, sagt der Lateiner. Die Schöpfung aus dem Nichts. Die Kleine, die ihre noch neuen Schuhe dem „Zigeunermädchen“ – ja, so sagte man damals (1933/34) – schenkt, „da, nimm sie!“, kommt dem ziemlich nahe.
In immer neuen Anläufen beschreibt Paulus die Agape, die Gottes Liebe in die Welt trägt. „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.“ [1. Kor 13,4-8]
Aus seinen Worten leuchtet einer hervor, der solche Agape zur Wirklichkeit gebracht hat: Jesus Christus. So „geht Menschsein“ im Sinne Gottes. Wir verstehen, die Agape taugt zur Hermeneutik, zur systematischen Deutung des Lebens. Die Agape könnte uns helfen, das Leben zu verstehen und uns darin. Und das, obwohl uns die Erfahrung von Endlichkeit und Bruchstückhaftigkeit nicht verlässt. Immer können wir nur ein wenig so, wie wir es wollten. Immer kommen wir mit unseren Möglichkeiten an ein Ende. Im Wollen und im Wissen. Das ändern wir nicht. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. [1. Kor 13,10]
Wird das auch für unser Denken gelten? Unsere Erkenntnis? Unser Verständnis?
„Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ [1. Kor 13,11-12]
Gedanklich geht mir hier der Himmel auf. Ich werde erkennen, wie ich erkannt bin. Von wem? Ohne Frage, von Gott! Ich werde also erkennen, wie Gott erkennt. Welch Verheißung nach all dem Fischen im Trüben und Stochern im Ungewissen!
Spätestens dann wird unabweislich klar sein: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ [1. Kor 13,13]
Die Agape ist die größte, die treibende Kraft in dieser Trias. In ihr und aus ihr leuchtet Gott selbst. Und ohne sie sind Glaube und Hoffnung leere Worte. Auch jetzt beim Blick auf die Widerwärtigkeiten unserer Zeit.
„Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts“, heißt es in der Sopranarie Nr. 49 in der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Hier singt der Glaube von seiner Hoffnung: „Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts. Dass das ewige Verderben und die Strafe des Gerichts nicht auf meiner Seele bliebe…“ Gottes Agape lässt unsere Hoffnung nicht zuschanden werden.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.