6. Sonntag nach Trinitatis
Thema: Von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
KonfirmandInnen des Jahrgangs 2022-23 mit Pfarrer Moritz Mittag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Nach ungefähr zweieinhalb Stunden sind wir am Himmelfahrtstag in Eisenach am Fuß der Wartburg. Etwa dort versammeln sich am 18. Oktober 1817 ca. 500 Studenten. Sie kommen mit Professoren von fast allen evangelischen Fakultäten In Deutschland. Anlass bietet der 4. Jahrestag der Schlacht bei Leipzig. Viele kennen sie unter der Bezeichnung „Völkerschlacht“. Den Sieg über das Heer Napoleons gibt den Bestrebungen Auftrieb, die der herrschenden Kleinstaaterei ein Ende machen und einen Nationalstaat mit gemeinsamer Verfassung und bürgerlichen Rechten und Freiheit schaffen wollen. Zudem erinnern die Studenten an Martin Luther, der dort oben auf der Wartburg 1521/22 saß und mit seiner Bibelübersetzung eine Grundlage für das gemeinsame Schriftdeutsch, das Deutsch, das wir sprechen, geschaffen hatte. So bekommt der Bergfried der Wartburg bei den jungen Leuten die Bedeutung eines Leuchtturms für deren Forderung nach einem geeinten Deutschland.
Die Studenten führen Fahnen mit sich, deren Farben an die Befreiungskriege erinnern – Schwarz-Rot-Gold – und ziehen damit den Berg hinauf. Wir fahren mit dem Auto und schaffen es vom Parkplatz aus, die kurze Strecke hinauf bis ans Burgtor zu erklimmen. Ein herrlicher Blick erwartet uns. Zu unseren Füßen Eisenach und weiter hinten der Hainich auf der anderen Seite der Höhenzug des Thüringer Waldes. Im Burghof können die müden Konfis endlich sitzen. Aber auch so kann man die alten Zeiten Revue passieren lassen. Dazu gibt an diesem Tag die Festversammlung in Frankfurt Anlass, die des ersten frei gewählten Parlaments in unserem Land gedenkt. Es kommt im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche unter den Farben Schwarz-Rot-Gold zusammen. Wir stellen die Verbindung her zwischen Paulskirche und Wartburg.
Ich selbst erinnere die Wartburg noch in DDR-Zeiten. Von wegen Freiheit. Bei den kurz zuvor erlebten Grenzkontrollen hat sich mir damals der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit eingebrannt. Wie ist das bei Euch? Was bedeutet Dir die Freiheit, Felix, und was würde fehlen, wenn sie uns genommen würde?
„Freiheit hat mir erst sehr viel bedeutet, als ich gesehen habe, wie wenig Freiheit andere Menschen haben. [sagen dürfen.] Daher bin ich sehr dankbar und froh, dass ich in einem Land lebe, wo die Freiheit der Person unverletzlich ist.“
Und was würde fehlen ohne Freiheit?
„Ohne Freiheit würde Innovation fehlen, weil die Menschen nur in Freiheit sich austauschen können. Außerdem kann man, wenn man frei Ist, auch das Risiko eingehen, neue Sachen auszuprobieren.“
Von Eisenach aus fahren wir nach Erfurt. Die Stadt hat viel Schönes zu bieten. Auf dem Petersberg stehend, überblicken wir die Altstadt, sie kann viele Geschichten erzählen. Geschichten, aus denen die Geschichte gewoben ist. In einiger Entfernung sehen wir hinten den Ettersberg, wissen, dass an seinem Fuß Weimar liegt. Die Stadt der Klassik, des Idealismus, die Stadt Goethes und Schillers, der Ort, in dem 1919 die erste demokratische Verfassung Deutschlands beschlossen und verkündet worden war.
Oben auf dem Ettersberg sind vom Juli 1937 bis April 1945 etwa 266.000 Menschen im Konzentrationslager Buchenwald gefangen. Ungefähr 56.000 sterben. Sie sind unterernährt, krank oder werden, wie die sowjetischen Kriegsgefangenen erschossen. 1940 wird das Krematorium eröffnet, die vielen Leichen zu beseitigen. Bei der Erfurter Firma Topf & Söhne werden die Öfen konstruiert. Beim Besuch dort am Freitagnachmittag wird uns klar, dass selbst jene, die sich dafür nicht hergeben wollten, sich doch dazu gezwungen sahen. Sie wurden schuldig gegen ihren freien Willen. Ihnen wird bewusst gewesen sein, was fehlt ohne wahre Freiheit. Malte, Du hast darüber nachgedacht:
„Fast alles würde fehlen, gäbe es keine Freiheit. Die Berufswahl, die Abwechslung, die Farbe der Haare, sogar die Bücher, die man lesen würde, wären nicht mehr auswählbar, was kein gesundes Leben und somit öde wäre. Man dürfte nicht entscheiden, was man tun würde und somit keine, einen selbst betreffenden Entscheidungen mehr treffen, was die Wichtigkeit der Freiheit betonte, sobald diese so fehlen würde.“
Am Freitagmorgen besuchen wir den Dom. Die besondere Führung, die Jutta Bechtold für uns organisiert hat, führt uns dahin, wo der junge Luther als Student gesessen haben wird, in die Räume der damaligen Universität. Sie waren, als wäre das das Natürlichste von der Welt, in den Räumen am Kreuzgang untergebracht. Dort sitzt am 24. September 2011 Benedikt XIII. und rastet. Eben noch hat er mit 30.000 Menschen die heilige Messe auf dem Domplatz gefeiert. Er weiß um die Rolle der Christen in der DDR, eine kleine Zahl, die Jahre vor dem Mauerfall montags zum Gebet zusammengekommen ist, um für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu beten. Erst nach und nach werden es mehr. Ich habe es in der Predigerkirche selbst erlebt. Kurz vor dem Fall der Mauer, sind die Wenigen Viele geworden. Auch die Zahl der notorischen Trenchcoat-Träger hat zu genommen, die auffallen, weil sie unentwegt Notizen machen. Argwöhnisch beäugt, mitunter auch verfolgt, verhaftetet, weil sie etwas „Falsches“ gesagt haben, den „falschen“ Kontakt hatten oder sonst verdächtig waren,bleiben sie dran. Was treibt sie an? Malte, Du hast Martin Luther zitiert:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ [Von Freiheit eines Christenmenschen“, 1520] Gilt das auch dann, wenn der Christ äußerlich unfrei ist? Eingeschränkt, ohne freie Wahl oder sogar eingesperrt?
Malte: Ja, weil es eine geistige Freiheit gibt, auch wenn die körperliche Freiheit eingeschränkt ist.
Paulus schreibt an die Galater: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ [Gal 5,1]
Am Samstag gehen wir dorthin, wo Luther seinen Weg als Theologe und letztlich auch als Reformator begonnen hat. Im Augustiner-Eremitenkloster stellen wir uns vor, wie er selbst bei großer Kälte, im Gebet langausgestreckt auf dem Boden liegt und sich immer wieder fragt: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Anders ausgedrückt: Was kann ich tun, damit Gott mich so annimmt, wie ich bin? Mit allen meinen Macken und Verfehlungen, meinen faulen Ausreden und kleinen Lügen, die mir verlässlich zeigen: Du bist nicht so, wie Du sein solltest.
Wenn das die Anklage ist, mit der wir vor Gott stehen, was könnte uns freisprechen? Das fragt sich Luther und er entdeckt für sich und uns in der Bibel die Antwort: Die Menschen, die daran glauben, dass Christus für sie das Kreuz auf sich genommen hat, „werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ [Röm 3,24]
Vor Gericht, sollte man meinen, gibt es Gerechtigkeit. Viele haben das in der Zeit der Diktatur anders erlebt. Nachmittags begegnen wir ihnen in der Erinnerungsstätte Andreasstraße. Wir sehen Dokumente und sehen die einstigen Gefangenen, für diesen Moment selbst in einer der Zellen des Stasi-Knasts sitzend, als Zeitzeugen in kleinen Filmen. Sie alle haben auf die eine oder andere Weise den Vorgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – SED – nicht entsprochen. Dabei sollten im Sozialismus endlich alle gleich sein. Aber sie waren es nicht. Spätestens in der Zelle musste einem das klar sein. Aber die Hoffnung – oder ist es ein Traum? – von einer Gerechtigkeit, in der alle gleich sind, ist in unseren Köpfen. Hannah Du hast das formuliert und dabei bewusst oder unbewusst den Artikel 3 unseres Grundgesetzes wiedergegeben: „Gerechtigkeit ist ein Wert, der uns hilft, eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen gleich behandelt werden. Es ist wichtig, dass wir versuchen, fair und respektvoll gegenüber anderen zu sein, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem sozialen Status. Wir sollten uns bemühen, Gerechtigkeit in unseren Beziehungen, Arbeitsplätzen und Gemeinden zu fördern, damit jeder die gleichen Chancen hat, um erfolgreich zu sein.“
Gibt es auch eine Grenze meiner Freiheit und meiner Rechte? Bei Luther hat der Satz von der Freiheit eines Christenmenschen, den Malte uns in Erinnerung gerufen hat, eine zweite Hälfte. Die lautet: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ [Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520]
Ohne in die Einzelheiten zu gehen, ist ja klar, wenn wir alle maximale Freiheit für uns in Anspruch nehmen, ohne zu sehen, wo wir zurückzustecken, für andere da zu sein, ja, ihnen dienen zu müssen, dann endet das alles in einem Hauen und Stechen. Wer Geschwister hat mag das in manchen Phasen erprobt haben. Da ist kein Friede und da wird auch kein Friede, es sei denn, wir beherzigen, was in Artikel 2 des Grundgesetzes steht und mich an Luther’s zweiten Satz zur Freiheit eines Christenmenschen erinnert: „(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Was für uns Einzelne gilt, das trifft auch für unsere Staaten zu. Der Krieg, der der Ukraine aufgezwungen wurde und wird, spricht Bände. Nele, Du hast Dich und uns gefragt: „Wie viel können wir aber tun, um Frieden zu erreichen? Kann es überhaupt eine Art Weltfrieden geben? Das Sprichwort „die Welt ist hart und ungerecht“ spricht dagegen, denn Gerechtigkeit ist eine essenzielle Voraussetzung, um den Frieden erreichen zu können. Wenn beispielsweise die Ukraine sich jetzt ergeben würde, würde theoretisch Frieden herrschen, ohne Krieg und Waffen. Aber in Wirklichkeit ist die Gerechtigkeit nicht hergestellt, und die Bewohner der Ukraine fühlen sich ungerecht behandelt und sind unzufrieden. Der Frieden würde nicht lange halten. Wenn wir über die Welt nachdenken, fallen uns etliche Dinge ein, die ungerecht sind und wo die eine Seite benachteiligt wird, ohne etwas dafür getan zu haben. Es ist aber auch unfassbar schwer, immer allen gerecht zu werden, häufig, wenn man das versucht, wird man sich selbst nicht gerecht. Wie also können wir für Gerechtigkeit und damit für Frieden sorgen bzw. ist das überhaupt möglich?
Wir geben die Hoffnung nicht auf, Nele. Aber wissen auch, nichts, was wir können und machen, ist vollkommen. Auch der Friede nicht. Vielleicht unterscheidet Jesus deshalb den Frieden, den die Welt gibt, von dem Frieden, den er gibt: „Den Frieden lasse ich euch; meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“ [Joh 14,27]
Etwas plakativ deute ich das so: Die Welt macht Rechnungen auf im Bemühen um den Frieden. Jesus gibt den Frieden, indem er Rechnungen begleicht und das Kreuz auf sich nimmt. Darin können wir ihm nacheifern. Es lohnt sich, wenn viele kleine Leute das gemeinsame große Ziel verfolgen. Die Montagsgebete in der damaligen DDR dürfen wir nicht vergessen. Sie ermutigen uns, uns einzusetzen für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. In vielen kleinen Schritten.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.