Quasimodogeniti
Text: 1. Mose 32,23–32
Thema: Jeder hat seinen Jabbok
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Irgendwann müssen wir gehen. Weg vom Elternhaus, wenn wir alt genug geworden sind, um eigene Wege zu gehen. Weg aus der vertrauten Umgebung, wenn unser Broterwerb uns dazu bringt. Weg von zuhause, weil die äußeren Umstände, der Krieg, die Katastrophe oder die Krise uns dazu zwingen. Weg aus diesem Leben, wenn das zu Ende geht.

Dabei gehen wir manch unbeschwerte Wege voller Hoffnung und Zuversicht, aber auch solche, die uns Sorge bereiten oder Angst machen.

Die Veränderung vollzieht sich keineswegs nur im Äußeren: Der andere Ort, das andere Haus, das andere Land, nein, solche Wege bewegen die Seele. Unterwegs durch die Landschaften des Lebens kommt vielleicht auch der Moment der Sehnsucht. Darin steht der einen das blaugestrichene Gartentürchen vor Augen mit dem Garten dahinter, in dem es sich so wohl sein ließ. Dem anderen ist es das unverwechselbare vertraute Landschaftsbild der Heimat mit ihrer Sprache und den Menschen, die nur da so sind, wie sie da sind.

Im Grunde unseres Herzens wissen wir, einmal fortgegangen, wird nichts mehr das sein können, was wir zuvor verlassen hatten. Der Fluss der Zeit hat uns selbst mit sich geführt aber auch die Orte, die wir einst verlassen hatten. Das ist das, was auch dem Protagonisten unseres Predigttextes widerfahren wird. Es ist Jakob, der, Sie erinnern das, sich mit List und Tücke genommen hatte, was eigentlich nicht ihm, sondern Esau zugestanden hatte. Und Esau hat noch eine Rechnung mit Jakob offen. Trotzdem zieht es den dahin zurück, wo er hergekommen war. Ich lese aus 1. Mose 32:

23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. 24 Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. 25 Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

Jakob ist im Begriff wieder in das Land zurückzugehen, das Gott seinen Vätern und ihren Nachkommen verheißen hat. Die Erfüllung von Gottes Verheißung ist unsere Heimreise – ich denke auch an unsere „letzte Reise“.

Jetzt kommt Jakob an den Jabbok. In seiner Sprache verbinden sich dieselben Konsonanten zu verschiedenen Varianten. Die hier verwendete Verbform für „ringen“ gehört dazu. Am Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird, steht er an einem Ort der Entscheidung. Wir stellen uns dazu.

Jakob sorgt dafür, dass über den Fluss hinüberkommt, „was er hatte“ – vor allem seine beiden Frauen, die beiden Mägde und die elf Söhne. Bevor er selbst über den Fluss kann, hinter dem der immer noch auf Rache sinnende Esau wartet, wird es finstere Nacht. „Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.“ [1. Mos 32,25] Einer, wer ist das? Ist es Gott? Oder ringt er mit sich selbst? Mit seiner Zukunft oder mit seiner Vergangenheit? Worum geht es in diesem Kampf, der so erschöpfend lange andauert, wo wir es kaum aushalten, einem solchen Ringen zuzusehen. Jakob kämpft wie ein Löwe bis zum Morgen.

Am Ende wird Jakob sowohl verwundet als auch gesegnet. Gehört das nicht auch zusammen? Kampf und Blessuren auf der einen Seite, und das gute, das daraus wird. Jakob, der Fersenhalter, jedenfalls hält seinen nächtlichen Gegner fest. Der Segen, den er gewinnt, ist diesmal nicht erschlichen, sondern errungen.

Was war, hat er in seinem Ringen abgelegt. Jakob ist am Morgen danach ein Veränderter. Zum Zeichen dafür trägt er jetzt den Namen „Israel“ – „der mit Gott kämpft“.

So wie wir uns zu Jakob an den Jabbok stellen, so stehen wir selbst in unseren Lebensgeschichten immer wieder an unserem Jabbok. Dann kämpfen wir um eine Entscheidung, gegen die Resignation, das Scheitern, die Überforderung oder die Nachlässigkeit. Wir stellen uns, manchmal ist es auch, dass wir gestellt werden und es kein Entweichen gibt. Da, wo der Jabbok zwischen dem zu Ende gehenden Leben und einer noch im Dunkel liegenden Zukunft liegt – im Sterben, da – auch da – gilt Gottes Verheißung, „ich gehe hin euch die Stätte zu bereiten.“ [Joh 14,2]

Der Ort, an dem wir diesen Kampf bestanden haben, wo wir verwundet gesegnet aufstehen, ist ein besonderer Ort. Jakob nennt seinen Ort des Wiedererstehens Pnuël. Das ist der Ort, an dem wir Gott sehen und unser Leben bewahrt wird. Das wird nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sein. Wenn wir hinkend die Wunden unseres Kampfes mit uns tragen und alles Weitere noch im Dunkel liegt. Dann mögen wir an Jakob denken, der nicht aufgegeben und seinen Gegner nicht losgelassen hat, bis er den Segen empfangen hatte. Dafür muss es Morgen werden – so einer wie der Ostermorgen. Dann spüren wir, dass Gott treu ist und dass seine Treue uns leben lässt. 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.