14. Sonntag nach Trinitatis
Text: Lk 17,11–19
Thema: Wenigstens einer
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

„Undank ist der Welt Lohn“, ist der Titel eines Bechstein-Märchens. Das ist zum geflügelten Wort geworden. Aber stimmt das denn?

Auf der griechischen Insel Kos gibt es eine Dankstelle. Ja, Sie haben richtig gehört, eine Dankstelle. Was das ist? Man sollte meinen, es handele sich um eine Einrichtung, in der man sich Dank holen kann. Gibt’s das? Und braucht das jemand? Ganz ausschließen möchte ich das nicht. Wer weiß, vielleicht würde da ja der eine oder andere anstehen, der vergebens auf Dank gehofft hatte. Vielleicht die Mutter, die neben ihrer Berufstätigkeit den Haushalt managt und bei Bedarf für die seelischen Aufräumarbeiten nach kleineren oder größeren Katastrophen herhalten muss. Vielleicht auch der zuverlässige, sich nicht in den Vordergrund spielende Mitarbeiter, auf dessen Qualitäten man sich gerne verlässt, ohne sie aber jemals zu würdigen. Viel-leicht auch manch ehrenamtlich Engagierter, wenn der Lohn der Mühe in Murren und Nörgeln ausbezahlt wird.

Ein Besuch bei der Dankstelle, das würde dann vielleicht guttun. Nur schade, dass der Betreiber der Dankstelle auf Kos des Deutschen nicht so ganz mächtig gewesen war, denn bei seiner Dankstelle handelt es sich in Wahrheit um eine Tankstelle [Langenscheidt Dankstelle – Übelsetzungen: Brandneue Sprachpannen aus aller Welt von Titus Arnu, Berlin 2009]

Von Dank, vergessenem und ausgesprochenem handelt auch die Beispielgeschichte, die Lukas zu erzählen hat. Die räumliche Einordnung, Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem und wandert durch Samarien und Galiläa, markiert schon ein erstes Grundmotiv der Geschichte: Es geht um Grenzgänge, Wege an den Grenzen entlang und um Grenzüberschreitungen. Jetzt ist er in einem Dorf angekommen. Dort begegnet er Menschen, die nicht sofort der einen oder anderen Herkunft zuzuordnen sind. Wer, wenn nicht die Einheimischen selbst, wüsste etwa den Südtiroler treffsicher vom Tiroler zu unterscheiden? Und wer könnte schon am Aussehen, den Galiläer vom Samariter unterscheiden.

Das will schon gar nicht bei der Gruppe gelingen, der Jesus in jenem Dorf begegnet. Ihre Mitglieder werden nicht nach ihrer Herkunft charakterisiert. Die spielt in ihrem Fall und ihrer Situation keine Rolle. Es ist die Krankheit, die sie identifiziert und charakterisiert.  So ist das zumindest aus der Perspektive des Erzählers und der Gesunden seiner Zeit.

Die Gruppe der Zehn, das sind die anderen. Das sind die,  die die nicht zur nicht betroffenen Mehrheit gehören. Mit der Entdeckung ihrer Krankheit wurden sie isoliert und aus der Gemeinschaft der Gesunden ausgeschlossen. Eine Schutzmaßnahme gewiss und so gesehen verständlich. Für die Kranken allerdings, war es der Ausschluss vom Leben, das Ende ihrer sozialen Beziehung. Sie lebten jetzt schon nicht mehr im Reich der Lebenden.

Bei Lukas lesen wir im 17. Kapitel, in den Versen 11-19: 

11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. 12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14 Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. 15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme 16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. 17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? 18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Lukas, der Evangelist und Arzt, macht auf einen interessanten Zusammenhang aufmerksam: Krankheit und soziale Ausgrenzung. Das ist wohl ein Thema ohne Verfallsdatum.

Denken wir nur an die Patienten, die seit den 80er Jahren an Aids erkrankten oder – noch näherliegend – an die Isolierung der an Covid19 Erkrankten, denen sich zu nähern, wir uns in der Pandemie nicht trauten. Auch das Sanatorium, dessen Wirklichkeit uns Golo Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ vorstellt, hatte den Zweck die Erkrankten von den Gesunden zu scheiden. Aber immerhin nicht nur das. Auch die Gesundung der an der ansteckenden Tuberkulose Erkrankten war das Ziel des „Zauberbergs“, übrigens auch in Ruppertshain.

Mit der gebotenen Distanz zu den „Lebenden“ halten sich die zehn an Aussatz/Lepra Erkrankten vor den Toren auf, dort wo sie allenfalls die Vorübergehenden um Erbarmen bitten können. Dort ist nun also Jesus angekommen. Und zunächst hält er sich auch an die gängigen Spielregeln, will sagen, er hält die Grenzen ein. Auf Distanz begegnen sich die Zehn und er. „Geht hin und zeigt euch den Priestern!“ [Lk 17,14] beantwortet er ihren Ruf „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“ [Lk 17,13]

Damit enttäuscht er möglicherweise unsere erste Erwartung, er würde sich, wie wir das von ihm kennen, den Bittenden sofort und unmittelbar zuwenden, ja, und die Unberührbaren berühren. Denn so kennen wir den Grenzgänger Jesus. Aber genau das passiert erst einmal nicht: „Geht hin und zeigt euch den Priestern!“ Was für uns klingt wie: „Dafür bin ich nicht zuständig“, „da kann ich Ihnen nicht helfen“, hat in den Ohren seiner Zeitgenossen einen anderen Klang. Sie wissen vermutlich um das „Gesetz zur Reinigung von Aussätzigen“. Dabei handelt es sich nicht um das Ergebnis ministerieller Mühen, sondern um das, was im Buch Leviticus nachzulesen ist. Da wird beschrieben, was zu tun ist, um einen mittlerweile gesundeten Aussätzigen wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen.

Das heißt aber auch, und wir sollten das festhalten, schon diese Äußerung Jesu „Geht hin und zeigt euch den Priestern!“ setzt die Heilung der Zehn voraus. Zwischen dem Hilferuf der Kranken und Jesu Anweisung liegt die Heilung. Der Priester nämlich „soll aus dem Lager gehen und feststellen, dass die kranke Stelle am Aussätzigen heil geworden ist“ [3. Mos 14,3], um danach alle rituellen Handlungen zu veranlassen, deren Ziel es ist, den Gesundeten wieder in die Gemeinschaft der Lebenden zu holen.

Lukas stellt uns die Heilung nicht etwa als individuelle Gesundung vor, sondern als Resozialisierung in die Gemeinschaft der Lebenden. Eine Art Auferstehung im Leben: Wieder dazu gehören, wieder mitkönnen, wieder mit den anderen Orte, Wege und Erfahrungen teilen.

Nun also ziehen sie davon. Nur einer der Zehn nicht. Ihn hält etwas zurück, als er an der Schwelle zur Welt der Gesunden steht. Wie die anderen auch dürfte er bemerkt haben, dass die Symptome der Krankheit verschwunden sind. Es ist das passiert, was alle Heilkunst nicht vermochte. Aber dieser eine zuckt nicht mit den Achseln, sondern wendet sich an den, dem er diese Wendung zutraut. Deshalb kehrt er um und lobt „Gott mit lauter Stimme“ [Lk 17,15].

Genau betrachtet, sind wir Zeugen einer doppelten Umkehr. Der Mann geht das kurze Stück Wegs zurück, das er eben zurückgelegt hatte. Das ist die eine Umkehr. Die andere geschieht in seinem Sinn. Der verändert sich, indem er das Handeln Gottes erkennt. Und schließlich wirft er sich zu Boden „auf sein Angesicht zu Jesu Füßen“– eine Geste der Unterwerfung – „und dankte ihm“ [Lk 17,16]. Erst jetzt wird er, der Geheilte, durch den Erzähler Lukas seiner sozialen Zugehörigkeit nach identifiziert.

Vorher war er ein Aussätziger, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt heißt es. „Und das war ein Samariter“ [Lk 17,16]. Damit gehört er zu denen, mit denen ein frommer Jude keinen Umgang pflegt. Denn die Samariter tragen den Makel der religiösen Abweichung an sich. Sie gelten als Heiden, obgleich auch sie Jahwe anbeten und die fünf Bücher Mose als Grundlage ihres Kultes haben. Der Zwist zwischen Juden und Samaritern (auch Samaritaner genannt) ist vielleicht vergleichbar mit den gegenseitigen konfessionellen Abwertungen, wie wir sie aus der Kirchengeschichte und zum Teil auch aus eigenen Lebenserfahrungen kennen.

Ausgerechnet so einer tut das, was alle andern neun versäumen, von denen die meisten wohl „Rechtgläubige“ gewesen sein dürften. Ausgerechnet ein Samariter erkennt und anerkennt, was geschehen ist und wer gehandelt hat.

Jetzt erst wendet sich Jesus direkt an ihn. „Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen“ [Lk 17,19], sagt er. „Steh auf!“ das kommt mir bekannt vor. Mir fällt der lebensmüde Elia ein, der gesagt hatte: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele“ [1. Kön 19,4] Zu ihm spricht der Engel: „Steh auf und iss!“ [1. Kön 19, 5] Das „Steh auf“, wieder kommt mir Auferstehung in den Sinn, ruft ins Leben. Aufrichten, den Geheilten in den Stand setzen, ein heiles Leben zu leben. Selbständig zu sein. Das geschieht hier in der Begegnung mit Jesus, in der der eine zum andern kommt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden“, schreibt Paulus im 2. Brief an die Korinther [5,17].

„Dein Glaube hat dir geholfen“ [Lk 17,19], sagt Jesus am Ende zu dem Mann aus Samarien. Manchmal ist es „nur“ der Glaube, der es noch richten kann. Ich höre Jesus das eher leise und nicht triumphierend sagen, sehr persönlich und nicht einfach übertragbar. Und so wie die Dankbarkeit des einzelnen nicht einzufordern sein wird, so wird sich auch aus dem Erzählten keine Gleichung ableiten lassen: Glaube = Rettung. Das eine wie das andere bleibt unverfügbar. Auf die Frage, warum das so ist, bekomme ich keine Antwort. Frage ich aber ob, wann und wo Gott spürbar war, mache ich immer wieder Entdeckungen, die helfen aufzustehen und zu leben. Dann zeigt sich, dass der so gelebte Glaube, er rechnet mit Gott auch im größten Elend und in der haltlosesten Ohnmachtserfahrung, dass dieser Glaube eine Kraft ist, „die selig macht“ [Röm 1,16].

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.