5. Sonntag nach Trinitatis
Text: Joh 1,35–51
Thema: Was sucht ihr – wo wirst du bleiben?
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Als wir Kinder waren und „Verstecken“ spielten, bereitete es uns großes Vergnügen in einem nahezu unauffindbaren Versteck zu sitzen. Und wenn wir selbst dran waren zu suchen, setzten wir alles daran, die Versteckten aufzuspüren und zu finden. Ahnten wir da schon, dass Suchen und Finden uns ein Leben lang beschäftigen würden?

Mittlerweile nutzen wir die Suchfunktion unserer IT oder kehren ganz analog das Unterste nach oben auf der Suche nach dem Schlüssel, dem Ohrstecker oder der Konzertkarte. Und da sind noch die großen Suchbewegungen des Lebens. Mit wem will ich zusammen sein? Wo will ich leben? Womit will ich mich beschäftigen? Und letztlich: Was ist der Sinn meines Lebens? Das Leben als Suche.

Noch im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums, dessen Beginn vielen von uns von Weihnachten her bekannt ist – „Im Anfang war das Wort…“ [Joh 1,1] – sind wir Zeuge solchen Suchens und Findens. Ich lese die Verse 35- 51: 

35 Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; 36 und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! 37 Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben? 39 Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. 40 Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41 Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. 42 Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels. 43 Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. 45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. 46 Und Nathanael sprach zu ihm:

Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! 47 Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. 48 Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. 49 Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 50 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. 51 Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

Da steht also einer, der offenbar gefunden hat. Johannes der Täufer. Als er den vorbeigehenden Jesus sieht, bemerkt er: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ [Joh 1,36] Für uns kommt das fast überraschend. Er sieht und weiß. Die beiden Jünger, die neben ihm stehen, werden offenbar neugierig und gehen dem nach, auf den Johannes mit dem Grünewald-schen langen Zeigefinger gezeigt hat. Das bleibt nicht unbemerkt und Jesus dreht sich um und fragt die beiden. „Was sucht ihr?“ [Joh 1,38] Mitten aus der alltäglichen Situation heraus stellt Jesus die Frage, die uns insgeheim oder offensichtlich ein Leben lang beschäftigt. Warum eigentlich?

Wir finden doch auch. Nicht nur den Schlüssel oder den Ohrstecker oder die Konzertkarte. Wir finden, was uns gefällt und wer uns guttut und auch den Ort, an dem wir uns wohlfühlen. Gleichzeitig machen wir die Erfahrung: Nichts bleibt, wie es ist. Und angekommen, sind wir schon wieder Suchende. In Momenten genießen wir, dass wir gefunden haben. Das sind kostbare Momente, in denen wir einmal ganz bei uns sind. Momente der Balance, der Ausgeglichenheit. Vielleicht in ein paar Tagen im Urlaub. Hoffentlich findet da die Sehnsucht ihre Erfüllung.

Und dann – dann sind wir wieder außer uns, haben die Fühler ausgestreckt, lassen die Augen den Horizont absuchen oder sind ganz Ohr auf der Suche.

„Was sucht ihr?“ [Joh 1,38] In den existentiellen Momenten des Lebens rücken die Nebensächlichkeiten in den Hintergrund. Wenn es um Leben oder Tod geht, wenn ein Kind zur Welt kommt oder der Vater stirbt. Wenn eine Krankheit einem die Verletzlichkeit des Lebens vor Augen führt. Wenn mit der beruflichen Zukunft auch alles andere ins Bodenlose zu stürzen scheint. „Was sucht ihr?“ [Joh 1,38] Wir suchen den Menschen, den einen oder mehrere, die uns Halt geben, deren Zuwendung, deren Liebe uns im Suchen zur Ruhe kommen lässt. Und zugleich wissen wir, wir sind noch nicht am Ziel. Wir haben noch nicht gefunden, was unsere Sehnsucht stillt. Wie Stückwerk mag uns vorkommen, was im Einzelnen schön und wertvoll ist. Aber wie fügt sich das alles zu einem Ganzen? Was ist der Sinn der vielen Erfahrungen, der Versuche, dieses Kommens und Gehens des Lebens? Wer fügt die vielen Farbpunkte zum Bild? – Ich denke an die späten Impressionisten, die sogenannten Pointillisten, deren Bilder sich aus unzähligen Farbtupfen fügen. Erst mit Abstand betrachtet bekommt jeder Farbtupfen seinen bedeutungsvollen Platz und wird Teil des ganzen Bildes. Sind etwa die Momente unseres Lebens, ist unser kurzes Leben in ähnlicher Weise aufgehoben in Gottes Ewigkeit? Erst von dort aus betrachtet, bekommen die Einzelheiten Sinn?

An Gottes Ewigkeit lässt mich die nächste Frage denken. Jetzt sind es die Jünger die Jesus fragen: „Wo wirst du bleiben?“ [Joh 1,38] Sie meinen das ganz naheliegend, irdisch und menschlich. Wo bist du zuhause? Jelena, die ich neulich danach fragte, tippt kurz auf ihr Smartphone. Sie zeigt mir ein Foto. Ein komplett zerstörtes Haus. Und noch ein Foto. Eine total zerstörte Stadt. Jetzt will sie mit ihren beiden Töchtern hier bleiben und eine neue Heimat finden.

„Wo wirst du bleiben?“ [Joh 1,38] Wir kennen alle das Gefühl, wie das ist, wenn wir auf diese Frage keine Antwort haben. Die Fahrt ins Ungewisse. Manche reizt das, andere stürzt es in Ängste. Es braucht eine gehörige Portion Vertrauen, um damit gelassen umzugehen. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ [Mt 8,20] Das ist das schwere Los derer, die auf der Straße leben. Wie gerne würden die meisten von ihnen ein Zuhause haben!

Wenn wir ans Ende unseres Lebens kommen, wird uns vielleicht die Sorge umtreiben, wohin es mit uns gehen wird. Ich stelle mir das vor, was Jesus seinen Jüngern in einer seiner Abschiedsreden sagt: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen […] Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, Euch die Stätte zu bereiten?“ [Joh 14,2] Wenn ich mich ganz tief darauf einlasse, bekomme ich schon eine Ahnung der Gelassenheit dessen, der weiß, wohin er gehört. Dann wird aus der Sorge eine – vielleicht letzte – Sehnsucht: „Ich wollt, dass ich daheime wäre“. [Gedicht von Heinrich Laufenberg, 1430]

Das alles können die beiden Jünger noch nicht wissen und auch nicht die anderen, die sich diesem Mann anschließen, alles stehen und liegen lassen, ihr bisheriges Leben über den Haufen werfen und dem folgen, der sagt: „Kommt und seht!“ [Joh 1,39] Und was werden sie nicht alles sehen! Was werden all jene sehen und erleben, die Jesus folgen?

Mehr und weiter, als sie jemals gedacht hätten. So kündigt Jesus es ihnen an: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.“ [Joh 1,51]

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.