1. Advent
Text: Ps 24
Thema: Wegbereitung
Ev. Emmausgemeinde Eppstein
Pfarrer Moritz Mittag

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“ – das Leid, wir haben es eingangs gesungen, gehört für uns zum Advent. Es geht zurück auf Verse aus dem Psalm 24, den wir heute miteinander gebetet haben. Dieser Psalm in Gänze ist der Predigttext am heutigen 1. Advent.

Im weiteren Verlauf möchte ich Sie zu einer kleinen Architekturreise mitnehmen, Kopfkino quasi, die uns zu verschiedenen Toren führen soll.

Das Erste steht in Babylon, ursprünglich jedenfalls. Das sogenannte Ischtar-Tor hat heute seinen Platz im Berliner Pergamom-Museum. Vielleicht erinnern Sie seine blauen Kacheln und darauf die Darstellung der Tierreihen. Ob die nach Babylon entführten Geiseln in der Zeit ihrer Gefangenschaft einen Blick darauf werfen konnten? Das jedenfalls ist die Zeit, in der wohl Priester anfingen, die Überlieferung des Volkes Israel aufzuschreiben. Bis dahin gab es eine überwiegend mündliche Überlieferung. Ich lese die ersten beiden Verse des Psalms 24:

„1 [Ein Psalm Davids.] Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. 2 Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“ Gott ist der Herr – überall, sagt dieser an ein Glaubensbekenntnis erinnernde erste Vers. Der Zweite bezieht sich auf die alte Vorstellung, wonach die Welt auf Säulen über den Chaos-Wassern des Urmeeres ruht. Es ist der Herr, der das Schöpfungswunder vollbringt, und die Welt aus dem Chaos – Tohu wa bohu – in den Kosmos seiner Schöpfung überführt.

Wer jemals erlebt hat, dass seine Welt, die kleine oder große, aus den Angeln gehoben und ins Chaos gestürzt wurde – seien Fluten, Beben, Feuer oder die Grausamkeiten des Krieges der Grund, oder das persönliche Schicksal, das durch Krankheit, Siechtum, Verlust oder Trauer heimgesucht wird, wird die Ordnung, Kosmos, oder ihre Wiederherstellung zu schätzen wissen.

Das Tor selbst steht für eine Ordnung. Da gibt es ein Davor und ein Dahinter, ein Drinnen und Draußen. Zum Erhalt der Ordnung gehört, die Entscheidung, wer hereingelassen wird oder draußen bleiben muss. Im Tor wird Recht gesprochen. Das Tor ist ein Gerichtsort. Bei Amos heißt es: „Hasst das Böse, liebt das Gute und bringt im Tor das Recht zur Geltung!“ [Am 5,15] So stehen wir vor der Porta Nigra in Trier, ein gerichtlicher Entscheidungsort von der römischen Zeit bis ins Mittelalter.

Auch wer den Tempel in Jerusalem betreten will, sieht sich vor die Frage gestellt, die in Vers 3 zur Sprache kommt: „Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ [Ps 24,3] Ist das noch unsere Frage? Gehört Gott noch so selbstverständlich zu unserem Leben? Oder ist er immer wieder sehr weit von mir entfernt. Und ich kann mir nur sehr wenig unter ihm vorstellen, spüre ihn vielleicht nur selten oder womöglich gar nicht. Andererseits – vielleicht entsteht gerade aus dieser Leere oder Entfernung ein Suchen oder sogar eine Sehnsucht, die ihrerseits zur Frage werden kann: zur Frage werden kann: Wie komme ich zu diesem Gott, den ich so selten erlebe oder erfahre? Wie komme ich zu diesem Gott, der sich scheinbar so selten bemerkbar macht?

Die Antwort geben die folgenden Verse. Und die Antwort ist interessant. Wer Gott besucht (Gottesdienst), soll sich das klarmachen. Und er wird sich bemühen diesem Herrn gerecht zu werden. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Kultische Reinheit oder ethische Lauterkeit. Die erweist sich im Umgang mit dem Nächsten und der Gemeinschaft. Im Psalm heißt es: „4 Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: 5 der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils. 6 Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.“

Aber wer hat schon unschuldige Hände? Nicht mal der, der achtgibt, dass er sich die Hände nicht schmutzig macht. Und wer hat ein reines Herz? Wer hat niemals böse Gedanken, wer tratscht nie über seine Nachbarn, wer riskiert nie einen neidischen Blick? Und Lügen und betrügen – können wir uns da ganz freisprechen? Keine Notlügen, keine Schummeleien, nicht abgucken oder spicken bei der Klassenarbeit, immer ehrlich bei der Steuererklärung? Mit falschen Eiden haben wir zum Glück meist nichts zu tun. Trotzdem ist unsere Bilanz deprimierend: dreimal Fehlanzeige. Zum Glück geht der Psalm weiter.

Er erläutert, wer von Gott gesegnet sein wird, nämlich der, der nach ihm fragt. Und das ist die Wende in diesem Psalm. Der Psalm verändert sich sozusagen, so als übe er Rücksicht auf die Menschen und im Wissen, dass die Voraussetzungen, um zu Gott zu kommen, kein Mensch erfüllen kann. Aus meiner Frage „Wie komme ich zu Gott?“ wird nun die Frage: „Wie kommt Gott zu mir?“ Wenn Sie es nachher nochmal nachlesen wollen: Es ist der Vers 6.

Hier erfahre ich: Der, der nach ihm sucht und der, der nach ihm fragt, zu dem kommt Gott. Das ist ein Angebot an uns. Wir schaffen die Eingangsbedingungen nicht, wir versagen. Wenn’s an uns allein läge, wir hätten schon verloren. Aber dieses Angebot lautet: Gott kommt zu mir, wenn ich nach ihm frage und nach ihm suche. Er kommt zu mir, so wie ich jetzt gerade bin, in mein Leben hinein. „Soll er doch kommen“ – könnte einer meinen. Es gibt aber eine Voraussetzung: Ich muss von Gott noch etwas erwarten.

Wenn ich meine, Gott, den gibt’s sowieso nicht. Gott, den brauche ich nicht. Wenn ich das meine, dann kann ich ja gar nicht merken, wie er zu mir kommen will. Dann bin ich ja gleichsam zu, habe mich eingeschlossen in meinen vier Wänden und lasse nichts an mich heran. Dann gehe ich auch nicht aus dem Haus, um zu suchen. Dann gehe ich nicht in seine Gemeinde, denn was sollte ich mir davon versprechen?

Fragend brechen wir auf. Wir brechen das Fraglose auf.

Wenn ich nachdenke und ins Fragen komme, wenn ich Fragen habe, auf die ich nicht sofort eine Antwort habe, nach Gott frage, dann mache ich mich auf die Suche nach ihm. Ich breche auf in ein weites Land. Das Fragen gehört schon dazu. Schon die Frage nach Gott hat ihn im Blick. Ebenso wie die Frage nach dem Nächsten diesen schon im Blick hat. Es gibt, fällt mir auf, ohnehin so viele Ähnlichkeiten zwischen der Begegnung mit Gott und unseren Begegnungen untereinander. Man kann direkt davon lernen.

Niemand von uns erfüllt alle Voraussetzungen für die uneingeschränkte Anerkennung. Die Älteren nicht für die Jüngeren und umgekehrt, die Evangelischen nicht für die Katholiken und umgekehrt, die Alteingesessenen nicht für die Neuhinzugekommenen. Niemals kämen wir zueinander, wenn wir lediglich unsere hohen Ansprüche an die andern richteten.

Aber wenn wir nach den andern fragen, wenn wir für eine Begegnung offen sind, dann haben wir gute Chancen einander zu begegnen, vielleicht sogar Bekanntschaft oder Freundschaft zu schließen. So kann es uns auch mit Gott gehen, wenn wir ihn suchen und uns für ihn öffnen. Ist das nicht die Vorbereitung auf das Fest, in dem wir feiern, dass Gott zu uns kommt? Ist der Advent für uns ein Tor, durch das wir zum Fest gelangen?

Der Psalm verspricht uns, dass Gott kommt. Er zieht ein in sein Heiligtum. Gott kommt vergegenwärtigt durch die Lade – sein heiliges Wort – die einst in großer Prozession in den Tempel getragen wurde. Darum: „7 Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“

In der Vorstellung des Psalms kommt Gott als mächtiger Kriegsherr: „8 Wer ist der König der Ehre? Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.“ Und ja, der große Auftritt liebt das Tor, das auch gerne ein Triumphbogen sein darf.

Jetzt lade ich Sie wieder zum Kopfkino ein. Wir könnten uns in alle möglichen, zumindest europäischen, Metropolen stellen. In Berlin wäre es das Brandenburger Tor, in Paris am Ende der Champs Elysee der Arc de Triomphe und ganz hinten am Horizont groß und verheißungsvoll La grande Arche im neuen Viertel La Défense.

Und Jesus – er kommt sozusagen über den Hintereingang. Der Sohn Gottes wird im Stall geboren. Kein großer Auftritt.

Alles andere als das. Ein Mensch, ein Kind. Verletzlich, klein, auf Hilfe angewiesen. Ein Mensch wie wir. Kein Eroberer und kein Kriegsherr, ein Friedefürst. Oh, wie nötig haben wir den! Einer, der trägt und erträgt.

Ich weiß nicht, ob Arne Jacobsen, der große dänische Architekt der Moderne das im Sinne hatte, als er seinen oft großen Gebäuden eine, gemessen an den übrigen Dimensionen, kleine Eingangstür gegeben hat. Gebaute Demut der Macht. Zu sehen in Mainz am Rathaus. Sein Vorbild, wer weiß, vielleicht der Eingang zur Geburtskirche in Bethlehem. Er ist so klein, vor allem niedrig, dass man sich beim Eintreten bücken muss.

Ich vermute, dass die Tür, die wir für den kommenden Herrn öffnen können, kein Triumphbogen sein wird, schon eher die kleine Tür unseres Herzens. Aber tun wir das und erfahren wir sein Kommen, dann tut sich die Weite der Zukunft und der Ewigkeit auf.

„9 Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! 10 Wer ist der König der Ehre? Es ist der Herr Zebaoth; er ist der König der Ehre.“

Jetzt stellen wir uns an den Mississippi bei Saint Louis. Wir schauen auf und wir schauen durch The Gateway Arch, diesen gewaltigen Bogen, der den Blick in die Weite des ehemals Wilden Westens lenkt. Offenes Land. Möglichkeiten. Zukunft und Hoffnung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.